Aachen : „Weniger Glas? Nein, Glas wird immer da sein.“
Aachen Baustellen hat Benoit d‘Iribarne jeden Tag vor Augen — denn rund um den neuen Sitz von Saint-Gobain in Aachen entstehen Wohnhäuser und ein Hotel. Das Gelände des Alten Tivoli verdichtet sich zunehmend, und d‘Iribane, 54, schaut immer mal wieder hin, ob denn auch die Baustoffe seines Unternehmens zum Tragen kommen.
Seit dem 1. Januar ist er der Chef von Saint-Gobain Mitteleuropa. Vor welchen Aufgaben er steht, erläutert er im Interview mit unseren Redakteuren Hermann-Josef Delonge und Thorsten Karbach.
Herr d’Iribarne, zur Vorbereitung auf unser Gespräch haben wir selbstverständlich die Konzernstruktur von Saint-Gobain intensiv studiert. Drei Sparten, viele Tochtergesellschaften, viele Standorte: Wie behält man da den Überblick?
d’Iribarne: Diese Vielfalt entspricht der Philosophie einer internationalen Unternehmensgruppe wie Saint-Gobain. Wie viele große Konzerne versuchen wir, einen Ausgleich zwischen regionaler Organisation und weltweit operierenden Sparten zu finden. Alles, was operativ ist, versuchen wir lokal in der Nähe der Kunden anzubieten. Die allgemeine Strategie, also das, was Investitionen und langfristige Planung angeht, wird auf einer zentralen Ebene koordiniert und definiert, um Synergien herzustellen.
Es ist also wichtig, weiter an möglichst vielen Orten präsent zu sein?
d’Iribarne: Ja, um direkt bei den Kunden zu sein und schnelle, kurze Entscheidungswege zu haben. Aber auf der anderen Seite wissen wir natürlich auch, dass es nicht sinnvoll ist, eine neue Technologie für einen neuen Werkstoff gleichzeitig in Deutschland, England, Frankreich und den USA zu entwickeln. Solche Dinge müssen zentral koordiniert werden.
Sie sind von Aachen aus verantwortlich für das Geschäft von Saint-Gobain in Mitteleuropa, also Deutschland, die Benelux-Länder und Österreich. Ist Aachen für Sie das Zentrum Europas?
d’Iribarne: Jedenfalls ist Aachen für meine Arbeit der ideale Ort. Die Nähe zu Belgien und den Niederlanden ist perfekt. Außerdem haben wir in der Region eine lange Tradition. Wir sind sehr zufrieden hier in Aachen. Übrigens macht Deutschland 80 Prozent unseres Geschäftes in Mitteleuropa aus.
Saint-Gobain ist global aufgeteilt in die drei Hauptsparten Innovative Werkstoffe mit Glas und Hochleistungswerkstoffen, Bauprodukte und Baufachhandel. Welche Bereiche sind besonders stark?
d’Iribarne: Das größte Wachstum verzeichnen wir bei Hochleistungskunststoffen für den medizinischen Sektor und die Pharmaindustrie. Die Wachstumsrate liegt hier zwischen zehn und 20 Prozent im Jahr — das haben wir im Bausektor und der Autobranche nicht.
Das ist also der am stärksten wachsende Bereich. Aber ist es auch der umsatzstärkste?
d’Iribarne: Der umsatzstärkste Bereich ist nach wie vor unser Baufachhandel — bei ganz Saint-Gobain und auch in Deutschland.
In unserer Region wird der Name Saint-Gobain vor allem mit Glas verbunden. Das hat eine besondere, lange Tradition. Wie ist die Situation in diesem Geschäftsbereich?
d’Iribarne: Wir unterscheiden hier zwischen Glas für die Baubranche und Glas für Automobile. Im Bausektor konnten wir nach einigen schwierigen Jahren wieder schrittweise Verbesserungen verzeichnen. Der Markt hat sich für das Basisglas erholt, und wir haben gleichzeitig neue Produkte entwickelt. Da sind wir auf einem guten Weg. Die Situation ist etwas komplizierter für das weiterverarbeitete Glas wie Isolierglas. Ich habe die Hälfte meiner Karriere bei Saint-Gobain im Autoglas-Bereich gearbeitet.
Das ist ein sehr interessanter Markt, aber vor allem ist es ein Markt mit einem sehr starken Wettbewerb. Die Kunden stehen unter großem Druck, weil Hersteller etwa aus Asien immer stärker geworden sind. Das erzeugt auch bei uns Kostendruck und fordert Innovationen. Wir brauchen hier wettbewerbsfähige Lösungen für Standardprodukte und gleichzeitig innovative Neuerungen, für die Kunden in einem bestimmten Segment auch bereit sind zu bezahlen.
Wie wirkt sich das bei Saint-Gobain konkret aus, wenn die Automobilkonzerne mit stagnierenden oder sinkenden Absatzzahlen zu kämpfen haben?
d’Iribarne: Wir bekommen von unseren Kunden Druck, die Kosten zu senken. Das zu gewährleisten, ist für uns überlebenswichtig. Wir brauchen Technologien, die eine hohe Produktivität garantieren. Damit können wir im Wettbewerb bestehen. Mit einfachen Produkten in einem Land mit hohen Lohnkosten wie Deutschland ist es sehr kompliziert. In diesem Fall müssen sie die Herstellung durch hochtechnologische Prozesslösungen in Deutschland kostengünstig galten. Wenn sie das nicht schaffen, übernehmen Schwestergesellschaften in anderen Ländern die Produktion der einfachen Scheiben.
Machen Sie das?
d’Iribarne: Das müssen wir, wenn wir unsere Kunden halten wollen. Wir wollen in unserem Portfolio gleichermaßen einfache und hochwertige Produkte anbieten.
Zurück zum Glas und den Automobilen. Man fragt sich, wie sich zum Beispiel eine Frontscheibe überhaupt noch verändern kann?
d’Iribarne: Die Frontscheibe ist tatsächlich eines der Bauteile eines Autos, die sich in den vergangenen zehn Jahren am meisten verändert haben. Sie ist ein Bestandteil der Struktur des Autos geworden. Wenn Sie die Frontscheibe herausnehmen, dann haben Sie bei einem Crash-Test viel schlechtere Ergebnisse. Sie gibt dem Auto Stabilität und damit Sicherheit. Außerdem haben sich Gewicht und Design verändert, was auch zu einem geringeren Verbrauch beiträgt. Und die Frontscheine muss immer mehr Funktionen erfüllen. Sie wird zum Display. Da gibt es also viele Entwicklungsmöglichkeiten.
Das heißt: weniger Glas, mehr Folien und innovative Werkstoffe?
d’Iribarne: Die Frontscheibe ist ein Verbund aus Glas und Folien, aber weniger Glas? Nein, Glas wird immer da sein, weil es Stabilität bringt. Im Design werden die Frontscheiben in manchen Modellen sogar größer.
Innovation ist also überlebenswichtig?
d’Iribarne: Ja, und vor allem eine große Chance. Wir haben in Herzogenrath eine große Forschungsmannschaft, die in den vergangenen Jahren an allen wichtigen Innovationen von Saint-Gobain Sekurit mitgewirkt hat. Denken Sie an die beheizbare Windschutzscheibe. Früher war die Scheibe von Drähten durchzogen, da kam man sich vor wie in einem Gefängnis. Furchtbar! Jetzt ist das heizende Element vollkommen transparent. Sekurit war der erste Anbieter am Markt. Das wurde in Herzogenrath entwickelt.
Profitieren Sie in diesem Zusammenhang von den Hochschulen in der Region?
d’Iribarne: Auf jeden Fall. Wir haben konkrete Projekte mit einigen RWTH-Instituten wie dem Werkzeugmaschinenlabor. Aber die Nähe zu den Hochschulen bietet auch die konkrete Chance, von dort Nachwuchs zu gewinnen.
Was Sie auch tun?
d’Iribarne: Selbstverständlich.
Sehen Sie auf dem Glasmarkt neben der Autobranche andere Märkte, die Sie erschließen wollen?
d’Iribarne: Wir sind stark im Flugzeugbau, dort eines der beiden weltweit führenden Unternehmen. Das ist kein großer Bereich, aber ein guter Markt. Hinzu kommen kleinere Märkte. So sind wir weltweit Marktführer für Glaskeramik, die etwa bei Cerankochfeldern zum Einsatz kommt.
Ihr Unternehmen wurde im vergangenen Jahr 350 Jahre alt. Wo spürt man diese Tradition?
d’Iribarne: Zu dieser Tradition zählt vor allem die Art, wie wir mit unseren Mitarbeitern umgehen. Wir sprechen von einem solidarischen Unternehmergeist, der uns antreibt.
Gibt es denn innerhalb des Konzerns keine Konkurrenz zwischen Standorten und Bereichen?
d’Iribarne: Konkurrenz? Vielleicht in dem Sinne, wer die besten Absatzzahlen hat und die höchste Kundenzufriedenheit erzielt. Aber wie gesagt: Dabei sind alle sehr solidarisch, das ist ein zentraler Wert bei Saint-Gobain.
Zur Tradition zählt es auch, dass Sie die Namen von Zukäufen etwa bei Rigips erhalten. Wäre es nicht sinnvoll, da den Markendachnamen Saint-Gobain zu nutzen?
d’Iribarne: Das ist eine gute Frage, die wir uns auch immer wieder stellen. Wenn Sie ein Unternehmen kaufen, hat dessen Namen einen bestimmten Wert, den man erhalten sollte. Das machen wir bei Produkten wie Rigips oder Isover, verbinden sie aber auch mit Saint-Gobain als Dachmarke. Sekurit ist ein gutes Beispiel. Wir sprechen von Saint-Gobain Sekurit. Gleichzeitig ist es aber nicht sinnvoll, Tausende Namen zu erhalten. Es geht uns nur um die wichtigsten.
Wenn Sie als französischer Manager mit einer dezidiert internationalen Karriere auf den Standort hier in Deutschland, in der Region schauen — was schätzen Sie hier besonders?
d’Iribarne: Für einen Franzosen ist es sehr angenehm, in Deutschland zu arbeiten. Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich sage: Es ist hier alles sehr gut organisiert, überschaubar, es gibt Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Das macht eine Organisation sehr effizient. Der einzige Punkt, bei dem man aufpassen muss: Wenn es eine Krise gibt, dann ist die Flexibilität nicht so groß wie in einem Land wie Brasilien. Wenn dort etwas nicht funktioniert, dann wird binnen weniger Wochen die gesamte Organisation auf den Kopf gestellt. In Deutschland ist das nicht möglich.
Und in Frankreich?
d’Iribarne: Bei einer größeren Krise eher als in Deutschland.