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Pflege-Start-up NevisQ: Mit smarten Fußleisten Stürze verhindern

Pflege-Start-up NevisQ : Mit smarten Fußleisten Stürze verhindern

Das Aachener Start-up NevisQ will die Digitalisierung in die Pflegebranche bringen. Ein intelligentes Sensorsystem soll für mehr Sicherheit sorgen ohne in den Alltag der pflegebedürftigen Menschen einzugreifen.

Ein nächtlicher Gang auf die Toilette, ein Sturz und stundenlang merkt es niemand. Es ist ein Szenario, das vielen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen Sorgen bereitet – nicht ohne Grund. Laut einer Umfrage des Robert Koch-Instituts sind Stürze die häufigste Unfallursache bei Menschen ab 65 Jahren. Auch die Folgen seien meist schwerwiegender als bei jüngeren Menschen und zögen oft langfristige Einschränkungen nach sich. Sturzerkennung und Sturzprävention sind deshalb vor allem in der Pflege Themen, an denen gearbeitet wird.

Das Aachener Start-up NevisQ hat für diesen Bereich eine digitale Lösung entwickelt. Mit Hilfe von Infrarotsensoren und einer intelligenten Software zeichnet das Produkt „Neviscura“ Bewegungsmuster in Räumen auf und soll damit Stürze nicht nur erkennen, wenn sie passieren, sondern sie im besten Fall sogar verhindern. „Wir wollen die Pflegebranche in die digitale Gegenwart holen und dadurch die Pflegekräfte entlasten“, sagt Geschäftsführer Christian Kind. Aktuell arbeitet das Start-up, das bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, an zwei Produkten, einem Sensorband für ganze Räume und einem Bettsensor. Beide können unter anderem automatisch ein Warnsignal senden oder ein Nachtlicht einschalten, wenn ein Bewohner aufsteht.

Kennengelernt haben sich die Gründer und Geschäftsführer Christian Kind, Stelios Katsanevakis und David Link im Studium. Von der ersten Idee, damals noch in einem Forschungsprojekt der RWTH Aachen, über den ersten Prototyp Ende 2015, bis zum fertigen Produkt arbeiteten sie rund drei Jahre an der Entwicklung. Inzwischen hat ihre Firma 16 Mitarbeiter und ihr Kernprodukt, das Sensorband und die dazugehörige Software, ist bereits in mehr als 100 Pflegezimmern installiert.

Für einen durchschnittlichen Raum ist das Band, das direkt an der Fußleiste angebracht wird, rund 16 Meter lang. Je nach Raumgröße kostet es um die 600 Euro netto, zuzüglich einer monatlichen Servicepauschale. Bisher kommt dafür keine Versicherung auf, erklären die Unternehmer. Einige Förderprogramme unterstützten aber die Digitalisierung in der Pflege und übernähmen in der Regel die Kosten. Man führe außerdem Gespräche mit den Behörden und Pflegekassen.

 David Link erklärt das neuste Produkt des Start-ups einen Bettsensor.
David Link erklärt das neuste Produkt des Start-ups einen Bettsensor. Foto: MHA/Harald Krömer

Die Installation des Bandes ist unauffällig und auf den ersten Blick fast nicht zu erkennen. Eine Dockingstation, die ähnlich wie ein Thermostat an der Wand befestigt ist, sorgt für die Datenübertragung. „Die Bewohner sollen in ihrem Alltag eigentlich gar nicht merken, dass ‚Neviscura‘ da ist“, sagt Kind.

Das Sensorband hingegen bemerkt genau, was im Zimmer passiert. Rund 100 Infrarotsender und -empfänger erzeugen eine Art unsichtbares Gitter, das den ganzen Raum abdeckt. Gegenstände oder Personen unterbrechen dieses Gitter. Verschiedene Aktivitäten sorgen für verschiedene Unterbrechungsmuster.

Die Interpretation dieser Rohdaten übernimmt eine Software, die mit künstlicher Intelligenz arbeitet. Das Programm hat gelernt, wie ein Sturz aussieht – und wie nicht. Das ist wichtig, damit zum Beispiel eine herunterfallende Decke keinen Fehlalarm auslöst. Je mehr Daten die Software zur Verfügung hat, desto besser wird sie darin, zwischen verschiedenen Bewegungsmustern zu unterscheiden.

Auf einer sogennanten Heatmap, können Bewegungsmuster auf der Online-Plattform von „Neviscura“ visualisiert werden.
Auf einer sogennanten Heatmap, können Bewegungsmuster auf der Online-Plattform von „Neviscura“ visualisiert werden. Foto: NevisQ

Deshalb wird „Neviscura“ schon seit mehreren Jahren in der Praxis getestet und weiterentwickelt. „Wir haben schon früh Kontakt mit Pflegeeinrichtungen aufgenommen“, sagt Kind. „Anfangs hatten wir eigentlich überlegt, eine App zu entwickeln. In den Gesprächen wurde dann aber schnell klar, dass es in den meisten Pflegeeinrichtungen gar keine Dienst-Smartphones gibt.“ Stattdessen verbindet sich „Neviscura“ nun direkt mit den bereits vorhandenen Notrufsystemen der Einrichtungen und einem Online-Portal, dass auf jedem Endgerät abgerufen werden kann.

Da zur Verbesserung des Systems viele persönliche Daten der Bewohner, wie zum Beispiel ihre Bewegungsroutinen, gespeichert werden, hat der Datenschutz bei ihnen eine hohe Priorität, sagen die Jungunternehmer. „Ein Sturz wird direkt im Raum erkannt und nicht erst auf einem externen Server“, erklärt Katsanevakis. „Die Daten für die Auswertung in unserem Online-Portal werden außerdem ausschließlich in Deutschland gespeichert.“ Alle Informationen würden zudem pseudonymisiert und man arbeite mit einem externen Datenschutzbeauftragten zusammen.

In Zukunft sollen die Daten aber nicht nur zur Verbesserung der Sturzerkennung, sondern auch für andere Analysen genutzt werden. Denn Bewegungsprofile könnten auch Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand eines Bewohners erlauben und als eine Art Frühwarnsystem fungieren. Bewegt sich ein Bewohner zum Beispiel deutlich weniger nach einer Medikamentenumstellung oder muss er besonders häufig auf die Toilette, könnte das auf Probleme mit dem Medikament hindeuten.

Die intelligente Sensortechnik soll Pflegekräfte aber keineswegs ersetzen. „Es soll gerade Nachts die regelmäßige Zimmerkontrolle ergänzen“, erklärt David Link. „Vor allem wenn wenig Personal verfügbar ist.“ Dabei spiele auch die mentale Entlastung der Pflegekräfte eine Rolle. Perspektivisch wollen die Gründer auch in der häuslichen Pflege aktiv werden. Das Start-up soll außerdem weiter wachsen. Neben dem bisher erschlossenen deutschsprachigen Raum haben die Gründer auch neue Märkte vor allem in Asien im Blick. Sie hoffen, pflegebedürftigen Menschen mit ihrer Technologie ein „sicheres und selbstbestimmtes Leben“ ermöglichen zu können.

Aktuell sucht NevisQ nach Pflegeeinrichtungen in der Region, die das neustes Produkt, den Bettsensor mit dem Namen „Sensormeter“, kostenlos testen und bei der Weiterentwicklung helfen möchten.