Aachen : Leiharbeit in der Kritik: Pro Idee grenzt sich von Amazon ab
Aachen Ja, gibt Ulf Bergjohann unumwunden zu, auch er habe schon bei Amazon bestellt. Allein schon aus beruflicher Sicht interessiere es ihn, wie der Online-Handelsriese arbeite, wie schnell er seine Pakete verschicke, welche Produkte er anbiete. Als der Geschäftsführer der Aachener Junghans-Gruppe Mitte Februar die ARD-Reportage über den heftig kritisierten Umgang von Amazon mit Leiharbeitern sah, musste er selbst schlucken.
„Das kann man nicht für eine ganze Branche so stehen lassen“, sagt Bergjohann heute, nachdem der Amazon-Skandal ein mediales Erdbeben nach sich zog. Eine ganze Branche gerät in Verruf. Und das ist für Bergjohann das Schlimmste an den Enthüllungen.
Die Junghans-Gruppe hat sich über Jahrzehnte vom kleinen Woll-Laden zum führenden deutschen Spezialversender entwickelt. Ein Großteil des Geschäfts läuft heute mit dem Ableger Pro Idee über das Internet und über Kataloge ab. 140 Millionen Euro Umsatz macht das Unternehmen pro Jahr. An den beiden Standorten in Aachen beschäftigt es über 550 Menschen. Und in Spitzenzeiten setzt die Firma auch auf die Unterstützung von Leiharbeitern.
Der Konkurrenzkampf in der Branche ist groß: Amazon bietet in einigen deutschen Regionen mittlerweile an, dass noch am Tag der Bestellung das Produkt geliefert wird. Diesen aggressiven Verkaufsstrategien muss man sich auch in Aachen stellen. „Wer bei uns bis 16 Uhr bestellt, bekommt den Artikel am nächsten Tag zugesandt, wenn er vorrätig ist“, erklärt Bergjohann.
Das Geschäft wird schneller, härter. Der Druck, auch auf die Belegschaft, wächst. Wie kann man sich diesen Herausforderungen stellen, ohne die soziale Verantwortung, die man als Unternehmen trägt, zu vernachlässigen? Eine Frage, die sie sich bei Junghans täglich stellen. „Ist es denn wirklich nötig, eine Jeans, die man bestellt hat, schon Stunden später in der Hand zu halten?“, wirft Bergjohann in die Runde.
Ob für die Küche oder den Garten, ob Mode, Weine oder technische Geräte — das Pro-Idee-Segment umfasst eine große Bandbreite. Zwischen 40.000 Artikeln können Kunden aktuell wählen. Wenn die Kataloge — insgesamt sieben Mal im Jahr — mit einer Auflage von mehreren Hundertausend Stück herausgehen, wenn das Weihnachtsgeschäft brummt, steigen die Bestellungen sprunghaft an. „In diesen Zeiten sind wir auf Leiharbeiter angewiesen“, erklärt Personalleiter Klaus Kuckelkorn. Im Durchschnitt werden bis zu 80 befristet eingestellt. Dafür arbeitet die Junghans-Gruppe mit dem Aachener Personaldienstleister Zaquensis zusammen.
Die dort angestellten Leiharbeiter werden nach gültigem iGZ-Tarifvertrag für Zeitarbeit bezahlt. „Und der Stundenlohn liegt dort wie natürlich auch bei unserem Stammpersonal über dem derzeit diskutierten Mindestlohn“, sagt Kuckelkorn. Unter anderem SPD und Gewerkschaften fordern einen flächendeckenden Lohn von 8,50 Euro pro Stunde. Der nach der Niedersachsen-Wahl rot-grün dominierte Bundesrat votierte jetzt für einen entsprechenden Antrag. Die schwarz-gelbe Koalition will den Gesetzentwurf im Bundestag stoppen.
Von Lohndumping könne unterdessen bei der Junghans-Gruppe keine Rede sein, betont Bergjohann. Auch würden Leiharbeiter bei Junghans von allen Vergünstigungen, die dem Stammpersonal zugute kommen, profitieren: vom bezuschussten Essen in der Kantine bis zu bei Sonderauszahlungen. Kuckelkorn fügt an, dass man darüber hinaus aus dem Pool der Leiharbeiter stets auch neue Kräfte für die Stammbelegschaft gewinnen würde. 2012 wurden bei Junghans 20 Leiharbeiter fest eingestellt. „Dies ist schließlich ein Ziel der Leiharbeit“, erklärt Bergjohann. „Menschen wieder an den ersten Arbeitsmarkt heranführen.“
„Wir haben als Arbeitgeber eine soziale Verantwortung“, sagt der Geschäftsführer weiter. „Das sagen wir nicht nur, das leben wir auch vor.“ Dazu zähle auch, dass man beispielsweise mit dem doppelten Abiturjahrgang im Sommer die Zahl der Ausbildungsplätze auf bis zu 40 verdoppeln möchte.
Zeigt die Affäre Amazon, dass das gesamte System der Leiharbeit dringend reformiert werden muss? Bergjohann sieht das nicht so. „Man darf nicht alles über gesetzliche Regelungen steuern.“ Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sieht der Junghans-Geschäftsführer nicht als Schreckgespenst des Turbo-Kapitalismus.
Was bleibt, ist die politische Dimension: Laut einer Studie des Deutschen Gewerkschaftbundes (DGB) aus dem vergangenen Jahr musste der Bund rund vier Milliarden Euro aufwenden, um Geringverdienern mit Vollzeitjob das Existenzminimum zu sichern. „Leiharbeiter sind mit dem höchsten Risiko konfrontiert: Von allen Arbeitnehmern mit sozialversichertem Job muss jeder zehnte Leiharbeiter mit Hartz IV aufstocken“, heißt es in der Studie. So habe der Bund laut DGB im Jahre 2011 schlecht verdienende Leiharbeiter mit insgesamt 307,6 Millionen Euro aufstockenden Hartz-IV-Leistungen unterstützt.
Bergjohann kennt diese Probleme. Für sein Unternehmen will er sie nicht gelten lassen. Die Betriebsratsvorsitzende Katharina Mund pflichtet ihm bei. Als über die Skandale bei Amazon und die schlechten Bedingungen von Leiharbeitern berichtet wurde, seien einige Kollegen zu ihr gekommen und hätten gesagt: „Unglaublich wie die dort mit Mitarbeitern umgehen. So etwas gibt es bei uns zum Glück nicht.“
Ob die jüngst bekanntgewordenen Vorfälle beim Internet-Versandriesen weitere Auswirkungen für den Wirtschaftszweig nach sich ziehen, will Bergjohann nicht abschließend beurteilen. „Es gibt leider in jeder Branche schwarze Schafe. Wir können aber für unser Haus sagen: Die verallgemeinerten Vorwürfe sind nicht zutreffend.“