Aachen : „Die Rente mit 63 ist das falsche Signal“
Aachen Wenn das Interview auf dem CHIO in Aachen stattfindet, dann drängt sich dieses Bild auf: Sind für die deutsche Wirtschaft große Sprünge in Sicht, Herr Wansleben? Die Frage kann der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Martin Wansleben, natürlich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.
Die Antwort ist weit komplizierter, wie der Kölner Wansleben, seit 2001 an der Spitze der DIHK, deutlich macht.
Die Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft ist bei prächtigen 2,0 Prozent angekommen. Geht es der deutschen Wirtschaft so gut?
Wansleben: Wirklich gut war der Jahresanfang. Das erste Quartal hat die Konjunkturprognose von 2,0 Prozent voll bestätigt. Das zweite Quartal läuft weniger gut. Das Exportgeschäft ist mau. Wir stellen eben doch fest, dass es um uns herum in vielen europäischen Ländern nicht so gut aussieht. Die Russland-Ukraine-Krise schlägt inzwischen bei den deutschen Exporteuren voll durch. Wir hatten auch schon bessere Geschäfte in Südamerika. Der DIHK bleibt aber bei der Prognose von 2,0 Prozent, weil der Inlandskonsum vergleichsweise gut läuft. Und wir haben einen Bauboom. Die Deutschen sind als Fußball-Weltmeister sowieso derzeit einfach gut drauf.
Wie ist die weitere Perspektive? Die Prognosen für 2015 waren bisher eher von Skepsis geprägt…
Wansleben: Wir sind ein klassisches Exportland. Insofern ist die wirtschaftliche Entwicklung immer eng mit den Entwicklungen in der Welt verbunden. Da bläst uns im Moment der Wind ganz schön ins Gesicht. Aber die Volkswirtschaften auf der Welt werden sich weiterentwickeln. Und das sorgt auch mittel- wie langfristig für eine gute Perspektive für die deutsche Wirtschaft. Vom Maschinenbau über Automobil oder Chemie bis hin zur Pharmazie brauchen wir uns nicht zu verstecken.
Also ist doch alles gut?
Wansleben: Nein, denn auf der anderen Seite haben wir das Problem der alternden Gesellschaft. Wir brauchen eine Kultur der Neugierde auch bei denen, die über 50 Jahre alt sind und glauben, schon alles zu wissen. Denn nur mit Neugierde und Zukunftsorientierung lassen sich Innovationen überhaupt stemmen. Und wir brauchen ein Umfeld hier in Deutschland, über das gesagt wird: Hier lohnt es sich, zu investieren. Und da haben wir in den ersten Monaten der großen Koalition einige nicht so positive Zeichen erlebt…
Welche?
Wansleben: Es geht für uns um die Frage: Wie zukunftsfähig ist unsere Gesellschaft? Und wenn die Antwort auf unsere demografische Entwicklung ist, die Rente mit 63 einzuführen, dann bereitet uns das über die Kosten hinaus, die dieser Schritt verursacht, ganz schön Sorgen. Denn es ist das absolut falsche Signal. Das falsche Signal gegenüber den Älteren. Das völlig falsche Signal gegenüber den Jüngeren, die später die Zeche bezahlen. Und das ist auch ein falsches Signal gegenüber unseren Nachbarn, denn von denen erwarten wir doch, dass sie Reformen umsetzen, zu denen unter anderem das Heraufsetzen des Rentenalters gehört. Denn nur so kann Europa wettbewerbsfähiger werden.
Ist die Rente mit 63 die aus Ihrer Sicht schlimmste Entscheidung, die die große Koalition bisher auf den Weg gebracht hat?
Wansleben: Von der Symbolkraft her: Ja. Von den Kosten her ist es die Mütterrente. Persönlich halte ich sie für vollkommen verfehlt. Aber selbst wenn man sie für richtig hält, ist es auf jeden Fall falsch, sie aus der Rentenversicherungskasse zu bezahlen. Auch das ist ein falsches Signal. Denn es hat sich dank der derzeit noch guten Konjunktur endlich Geld in der Rentenkasse angesammelt, und jetzt wird diese Rentenkasse bis zum Ende der Legislaturperiode wieder geplündert.
Würden Sie das Rentensystem so belassen, wie es war?
Wansleben: Die Rente mit 67 ist richtig. Wir werden alle älter und fühlen uns entsprechend jünger, wenn wir 65 sind. Die Couch im Wohnzimmer kann doch nicht das Ziel des Lebens sein. Außerdem müssen wir uns ein langes Rentenalter auch leisten können. Wir haben viele Mitbürger, die kleine Renten haben und die darauf angewiesen sind, lange arbeiten zu können. Deswegen hätten wir uns sehr gewünscht, statt der Rente mit 63 eine Bewegung in Richtung Kultur des langen Lebens und Arbeitens zu initiieren. Sehen Sie doch mal den Unterschied der Botschaften! Die eine ist: „Liebe Kinder, wir leben länger, und das ist gut. Wir freuen uns darauf und wollen auch lange arbeiten.“ Und die andere ist: „Liebe Kinder, wir leben länger, machen uns im Arbeitsleben aber möglichst schnell vom Acker.“
Schon jetzt sehen 38 Prozent der deutschen Unternehmen Fachkräftemangel als Risiko für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Verschärft die Rente mit 63 nun diese Situation?
Wansleben: Das kommt noch hinzu. Die Rente mit 63 hat direkte Auswirkungen gerade auf die mittelständischen Unternehmen. Diese Betriebe haben viele langjährige, verdiente Mitarbeiter,die an wichtigen Stellen arbeiten und jetzt früher gehen. Das ist für sie ein Schlag ins Kontor. Die Politik mag sagen: Die müssen ja nicht gehen. Aber machen wir uns nichts vor: Der Mensch wird doch in Versuchung geführt, wenn er zwei Jahre früher gehen kann, ohne einen Abschlag bei seiner Rente in Kauf nehmen zu müssen.
Nach der Rente mit 63 kommt nun der nächste Aufreger. Was denken Sie über die Pläne für eine Pkw-Maut von Minister Dobrindt?
Wansleben: Persönlich halte ich die aktuelle Diskussion über diese „Ausländermaut“, denn das ist sie irgendwie doch, für sehr unglücklich. Zuerst müssen wir als größte Volkswirtschaft in Europa und gerade vor dem Hintergrund unserer Historie Gastfreundschaft leben. Unsere Grenzen sind offen, und wir freuen uns, wenn andere zu uns kommen. Außerdem steht uns als Fußball-Weltmeister eine gewisse Großzügigkeit und Gastfreundschaftlichkeit gegenüber unseren Nachbarn gut zu Gesicht. Für 600 Millionen Euro im Jahr die Freundschaft zu den Niederlanden, zu Belgien und zu Luxemburg sowie zu allen anderen Nachbarn aufs Spiel zu setzen, lohnt sich nicht. Es gibt kein anderes Land in Europa, das so viele Nachbarn hat wie wir, und deswegen ist eine aktive Nachbarschaftspolitik für Deutschland auch wirtschaftlich essenziell.
Die 600 Millionen Euro sollen aber doch in die Infrastruktur des Landes fließen, die bekanntermaßen in schlechtem Zustand ist. Ist das nicht in Ihrem Sinne?
Wansleben: Die Bundesregierung hat entschieden, sechs Milliarden Euro im Jahr für die Mütterrente auszugeben und gerade mal 1,2 Milliarden zusätzlich pro Jahr für die Pflege der Verkehrsinfrastruktur. Das ist ein absolutes Missverhältnis. Und substanziell helfen uns die 600 Millionen Euro aus der Pkw-Maut nicht weiter. Der Verkehr in Deutschland zahlt heute schon rund 50 Milliarden Euro — das ist bei weitem mehr als der Bund für die Verkehrswege ausgibt. Das ist Teil unseres Problems.
Gibt es aus Ihrer Sicht noch mehr politische Baustellen?
Wansleben: Je nachdem, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, kommt die Erbschaftsteuer und hier insbesondere die für die Familienunternehmen wieder auf die Tagesordnung. Die Verschonung von Betriebsvermögen muss bleiben. Das hat nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ein starker Mittelstand ist Grundlage der Aktionsfähigkeit unserer Gesellschaft insgesamt. Eine weitere politische Baustelle ist und bleibt die Energiewende. Die Bundeskanzlerin und der Wirtschaftsminister haben mit der Europäischen Kommission einen harten Kampf geführt. Es ist auch schon besser, als wir es erwarten konnten, aber es bleiben drei Punkte, die uns Sorgen bereiten.
Welche?
Wansleben: Erstens: Die Kosten steigen weiter. Wir kommen als Deutschland in die Klemme. In vielen anderen Ländern sind die Löhne niedriger, in anderen wiederum die Energiekosten. Das setzt dem Industriestandort Deutschland ganz schön zu. Zweitens: Die Energiewende ist nicht europakompatibel, weswegen Kritiker jetzt schon sagen, dass sie eigentlich gescheitert ist. Sie fügt sich nicht in den europäischen Energiemarkt ein. Als Exportnation leben wir davon, dass es einen europäischen Kfz-Markt gibt, meinen aber, uns einen nationalen Energiemarkt leisten zu können — das kann nicht funktionieren. Wir müssen deshalb dringend die Energiewende europäisieren. Und drittens: Wir haben Unternehmen und Stromverbraucher mit dem süßen Gift der Subventionen gelockt. Daraus sind Unternehmenskonzepte und große Subventionsberge entstanden. Wichtig ist es nun, dass wir die Energiewende in den Markt überführen. Daraus entstehen Kostensenkungsmöglichkeiten und neue Chancen für die Unternehmen.
Die Politik in Berlin bereitet Ihnen in diesen Tagen also nicht allzu viel Freude?
Wansleben: Eine Kernaufgabe der großen Koalition ist das Thema Europa und die Bewältigung der Krisen auf der Welt. Und ich denke: In Europa macht die Regierung gute Arbeit. Es ist wichtig, auf den Finanzmärkten glaubwürdig zu bleiben und eine klare Linie zu fahren. Das sehen inzwischen auch einige Reformländer so. Ich glaube, hier macht die Bundesregierung einen guten Job. Persönlich bin ich außerdem beeindruckt, mit welchem auch persönlichen Einsatz sich die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister zusätzlich den Krisen außerhalb Europas zuwenden. Deutschland ist gut beraten, sich in positiver Hinsicht weltweit einzumischen. Insofern ist nicht alles schlecht, was in Berlin geschieht.