Aachen : Der DGB soll sich stärker einmischen
Aachen Draußen vor der Tür griff ein Häuflein Demonstranten in die Saiten: „Wann wirds mal wieder richtig Sommer, so richtig wie es fast schon einmal war”, trällerte die „Partei Arbeit & soziale Gerechtigkeit”.
Drinnen gab sich Michael Sommer redlich Mühe, so kämpferisch zu wirken, wie sich viele Gewerkschafter ihren Vorsitzenden wünschen. Am ehesten gelang dem DGB-Chef das in der Auseinandersetzung mit einem unsichtbaren Gast des Tages - Horst Köhler.
„Wenn in einer solchen Rede das Wort Betriebsräte nicht einmal vorkommt, dann ist das Ausdruck eines schweren politischen Mangels”, sagte Sommer unter Anspielung auf die Grundsatzrede des Bundespräsidenten am Tag zuvor. An keiner anderen Stelle seiner Ansprache in der Aachener Aula Carolina erhielt Sommer derart viel Applaus.
„Kapitalismus zähmen”
Mitbestimmung sei historisch begründet und durch Leistung erstritten, betonte der DGB-Vorsitzende mit Blick auf die Aufbauleistung der Betriebsräte nach 1945 - damals, „als von den einst allmächtigen Bossen wenig zu sehen war”. Nur durch die Teilhabe am Sagen und Entscheiden könne der „Kapitalismus sozial gezähmt werden”.
Mitbestimmung sei eben alles andere als „lästiges Dazwischenreden”, der Erhalt der Flächentarife nicht überholt, sondern gesamtwirtschaftlich sinnvoll. „Wir haben keine Angst vor tarifpolitischem Häuserkampf, aber er wäre unklug”, erklärte Sommer mit Blick auf die Forderung nach betrieblichen Bündnissen für Arbeit.
Die fatale Zersplitterung der gewerkschaftlichen Macht, die den Aufstieg des Nationalsozialismus mit begünstigte, überwunden zu haben, das ist in Sommers Augen eines der wichtigsten Verdienste der Pioniere gewesen, die im März 1945 im zerbombten Aachen den Grundstein für den späteren Deutschen Gewerkschaftsbund legten. Sommer gedachte an dieser Stelle der zehntausenden Gewerkschafter, die vom NS-Regime verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. „Wir haben ihnen unendlich viel zu verdanken.”
Sechs Jahrzehnte danach stünden die Arbeitnehmerorganisationen vor ähnlich großen Herausforderungen: Globalisierung, Terrorismus und Massenarbeitslosigkeit. Der DGB und seine Mitglieder müssten mit Fantasie, Kraft und Solidarität Antworten entwickeln. „Ich bin überzeugt, dass wir nicht alle unsere Ziele neu bestimmen, nicht alle unsere Werte neu definieren, nicht alle unsere Mittel neu erfinden müssen”, betonte Sommer.
An einem ließen die Gewerkschaften nicht rütteln: „Der Mensch hat im Mittelpunkt zu stehen - und nicht der Geldsack.” Der Union empfahl der DGB-Vorsitzende, sich auf die Werte Karl Arnolds zu besinnen, aber auch der SPD stünde es gut an, die Traditionslinien zu Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer oder Herbert Wehner nicht abreißen zu lassen. Manchem Zuhörer reichte das nicht: „Das war zu wenig kämpferisch, zu defensiv”, sagt einer. Seine Nachbarn nicken.
Wie Sommer übte auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) deutliche Kritik an Köhler. Die „gesellschaftlichen Fliehkräfte” - Arm und Reich, Alt und Jung, Einheimische und Zuwanderer - seien „in einer gestrigen Rede nicht ausreichend beleuchtet worden”, sagte Steinbrück, nicht ohne Süffisanz und ohne den Präsidenten direkt zu erwähnen.
Um die Herausforderungen zu stemmen, brauche man hoch motivierte Belegschaften - „aber die gibt es nicht, wenn man sie von Teilhabe und Mitbestimmung ausschließt”. In einem Strukturwandel könne man sich nicht aussuchen, „ob man einen Betriebsrat mag oder nicht”.
Steinbrück forderte vom DGB, sich stärker einzumischen. Nicht nur bei der Diskussion um die Arbeit von morgen, auch bei der Debatte um die Zukunft von Staat und Gesellschaft seien die Gewerkschaften gefordert. „Wie wäre es, wenn sich die Gewerkschaften zu Anwälten des Mittelstandes machen würden?”
Das Grundgesetz garantiere die Würde des Menschen, sagte Gesine Schwan, und doch werde sie tagtäglich verletzt, „auch durch die Herabwürdigung als reines Produktionsmittel”. Die Präsidentin der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder war von Sommer als „Bundespräsidentin der Herzen” begrüßt worden - auch da tauchte Horst Köhler, der Unsichtbare, wieder auf.
Schwan war dem IWF-Chef 2004 bei der Wahl des Rau-Nachfolgers unterlegen. In ihrer Festansprache, die über weite Strecken eher einer Vorlesung glich, erteilte Schwan neokonservativen Moden und Mätzchen eine klare Absage.
„Die so genannte Deregulierung” des Arbeitsmarktes vergehe sich am Schutz der Menschenwürde. Mit der Massenarbeitslosigkeit sei den Gewerkschaften das schärfste Schwert - der Streik - praktisch aus der Hand geschlagen worden.
Gleichwohl sah sie keinen Anlass zur Resignation. Statt verloren gegangenen Milieus und Bindungen nachzutrauern, sollten sich die Gewerkschaften internationalisieren „und tendenziell globalisieren”. Ähnlich wie Steinbrück empfahl sie dem DGB, eine neue Rolle zu finden - als „politischer und gesellschaftlicher Dienstleister”.
„Wir erinnern uns heute an einen großen Tag der deutschen Geschichte”, sagte Aachens Oberbürgermeister Jürgen Linden in seinem Grußwort. Die Gründung der Einheitsgewerkschaft sei buchstäblich auf den Ruinen der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs erfolgt. „Der DGB war maßgeblich an der Erfolgsgeschichte Deutschlands beteiligt.”
Gerade in Zeiten des Umbruchs gelte es, den Begriff der Solidarität zu vermitteln. „Eine Gesellschaft ohne Mitmenschlichkeit und Teilhabe ist nicht überlebensfähig”, betonte Linden.
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