Bagger, Baken, Blinklicht : Warum dieser Baustellen-Boom in Deutschland?
Aachen Gefühlt ist halb Deutschland derzeit eine einzige Baugrube. Und proportional zur Zahl der Staus wächst bei vielen der Frust. Aber was sind die Ursachen?
So schlimm wie jetzt war es noch nie auf den Straßen, sagen viele. Ist das wirklich so? Wenn ja, woran liegt das? Und könnte es vielleicht besser laufen? Ein Erklärungsversuch.
Es gibt immer mehr Staus und Baustellen – stimmt das überhaupt?
Ja. Allein auf den rund 13.000 Kilometern Autobahnen im Land zählt der ADAC aktuell 830 Baustellen. 2018 waren es gerade einmal halb so viele. Besonders macht sich die Zunahme in der Urlaubszeit bemerkbar. In diesem Sommer summierte sich die Länge der registrierten Staus an den 13 Ferienwochenenden auf insgesamt 151.803 Kilometer, im Vorjahr waren es noch „nur“ 98.357 Kilometer. Ein Zuwachs von 54 Prozent – und Folge vor allem des Trends zum Urlaub in Deutschland. Im Vorkrisensommer 2019 kamen insgesamt 131.771 Staukilometer zusammen.
Auch in vielen Großstädten geht gefühlt und tatsächlich nicht mehr viel. In Aachen gab es (Stichtag 28. November) 30 Vollsperrungen und 89 Störungen, vom Kanalleck über den Bau eines Premiumfußwegs und diverse Hochbaustellen bis zum Parkhausabriss.
Ist es in NRW besonders schlimm?
Das kann man wohl sagen. Selbst der WDR-Verkehrsfunk kapituliert an manchen Tagen und meldet nur noch Staus ab zehn Kilometern Länge. Obwohl die Corona-Krise zu weniger Verkehr im Jahr 2020 geführt hat, belegt das bevölkerungsreichste Bundesland in Deutschland „unverändert den Spitzenplatz“, musste selbst Ministerpräsident Hendrik Wüst im August einräumen, als er noch Verkehrsminister war. Nachdem seine CDU 2016 die Landtagswahl gewonnen hatte, versprach sie den Bürgern weniger Staus.
Doch besser ist es nicht geworden. Knapp ein Drittel aller Staus bilden sich nach wie vor an Rhein und Ruhr. Was wenig überrascht, da NRW auch das dichteste Autobahnnetz in ganz Deutschland hat. Allein auf der besonders stauanfälligen A40 zwischen Duisburg und Essen zählte der ADAC im vergangenen Jahr mehr als 10.600 Störungen. Allerdings wird bei diesen Zahlen nicht nach den Ursachen unterschieden: Es liegt also nicht an den Baustellen allein, sondern auch an Un- oder anderen Zwischenfällen.
Gibt es auch innerorts mehr Straßenbaustellen als früher?
Vermutlich. Manches ist nicht zu vermeiden. „Wenn eine Wasserleitung kaputt ist, müssen Sie die Straße aufreißen – auch wenn das die Umleitung für eine andere Baustelle ist“, sagt Prof. Roman Suthold, Mobilitätsexperte des ADAC Nordrhein. Schwierig werde es immer dann, wenn die Koordinatoren in der Verwaltung nicht den kompletten Überblick haben.
„Das Controlling muss besser werden“, ist Suthold überzeugt. „Gerade bei Kanalarbeiten ist viel versäumt worden“, sagt Dr. Dirk Kemper, Leiter des Instituts für Straßenwesen an der RWTH Aachen. Pro Jahr kann in Deutschland nur etwa ein Prozent des Kanalnetzes saniert werden. „Kanäle halten aber nicht 100 Jahre“, sagt Kemper. Was bedeutet: Mit der Modernisierung im Untergrund werden die meisten Kommunen also wohl nie fertig werden.
Sind bröckelnde Brücken das größte Nadelöhr?
Ja. „Wir machen uns große Sorgen um die Autobahnbrücken“, sagte Stephan Krenz, Chef der neu gegründeten Autobahn GmbH, im Sommer in einem Interview. „Brücken sind immer der Engpass“, weiß Baustellenexperte Kemper. Meist seien es zwei getrennte Bauwerke.
Den Verkehr nun von einer maroden Seite auf die andere zu verlagern, sei keine Option. Also fallen meist ein oder mehrere Fahrspuren weg. „Rund 2500 Brücken, also gut jede zehnte der bundesweit 27.000 Autobahnbrücken, befindet sich in einem kritischen Zustand“, sagt Kemper. Denn jede Zweite hat 40 Jahre auf den Stützen – oder ist noch älter.
Muss also heute der Pfusch früherer Jahre repariert werden?
Nein. Brücken wurden in den 1960er und 1970er Jahren für ein erheblich geringeres Verkehrsaufkommen geplant und gebaut. „Auch die Gewichtsbelastung war damals eine andere“, sagt Kemper: Die Zahl der schweren Lkw hat im Lauf der Jahrzehnte deutlich zugenommen. „Ein 40-Tonner belastet eine Brücke so sehr wie 60.000 Autos“, ergänzt Suthold. Das bleibt nicht ohne Folgen. Zudem wurden die Autobahnen im Zuge der „Just-in-time“-Produktion zum rollenden Warenlager.
Fast 3,8 Milliarden Tonnen Güter pro Jahr karren die Lkw-Karawanen inzwischen allein über die Autobahnen. Aufs Ganze gesehen werden über das deutsche Straßennetz 72 Prozent der gesamten Güterverkehrsleistung abgewickelt – allen Vorsätzen zum Trotz, mehr Güter auf die Schiene zu verlagern. Eine Trendwende ist nicht in Sicht, auch weil ein Großteil der Waren in einem Radius von bis zu 250 Kilometern transportiert wird. Dafür lohnt die aufwendige Bahnverladung nicht.
Was macht die Sanierung von Brücken so besonders?
Der Neubau von Brücken ist eine komplexe, zeitaufwendige Angelegenheit, von der Statik bis zur Anlieferung der Bauelemente. Bekanntestes Beispiel ist die Leverkusener Rheinbrücke der A1. Der erste Spatenstich erfolgte bereits 2017, die erste der zwei neuen Brücken soll erst Ende 2023 fertig werden, die zweite noch einmal drei Jahre später – allerdings auch eine Folge diverser Baupannen. Die Rheinquerung ist kein Einzelfall. Manchmal hilft nur noch Dynamit – wie bei der betagten Salzbachtalbrücke der A66 in Wiesbaden, die Mitte November spektakulär gesprengt wurde.
Auch in der Region zeigt sich, welche Folgen marode Brücken mitunter haben. Der „Überflieger“ der Hollandlinie zum Beispiel, der 2018 abgerissen werden musste und den Ausbau des Autobahnkreuzes Aachen um Jahre verzögerte. Oder die vierspurige Überquerung des Westbahnhofs im Aachener Uni-Viertel, deren Tage ebenfalls gezählt sind. Das Bauwerk, Baujahr 1971, soll im Mai 2022 verschwinden, für den Neubau sind 17 Monate angesetzt.
„Es gibt zu den Sanierungs- und Neubaumaßnahmen aber praktisch keine Alternative. Sonst müssten die Brücken vielleicht einige Jahre später komplett gesperrt werden“, erklärt ADAC-Mann Suthold. „Das wäre noch wesentlich schlimmer als die aktuelle Situation. Brücken sind die Achillesferse der Straßeninfrastruktur.“
Ist der Investitionsstau die Stauursache Nummer eins?
Ja. Große Teile der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland sind in die Jahre gekommen, der Sanierungsbedarf ist gigantisch. Der Bundesverband der Bauindustrie schätzt, dass ein Sechstel der Autobahnflächen nur noch eingeschränkt zu befahren ist. „Mit einem Investitionshochlauf versucht die Politik seit 2016, dies zu beheben“, sagt Suthold.
„Der hohe Investitionsstau ist sicherlich mit dafür verantwortlich, dass Brücken für den Schwerlastverkehr ganz oder teilweise gesperrt werden und Stausituationen entstehen können“, meint Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer der Bauindustrie. „Weitaus relevanter erscheint jedoch das steigende Verkehrs- und Logistikaufkommen insgesamt.“ Das Ergebnis lässt sich an vielen Stellen beobachten: Allein in Nordrhein-Westfalen hat die Zahl der Autobahnbaustellen um mehr als 20 Prozent zugenommen.
Und Bauzeit sei „eben leider auch Stauzeit“. Das Problem hat aber auch handfeste ökonomische Folgen. Im jährlichen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit von Ländern, den das Weltwirtschaftsforum vorliegt, ist Deutschland bei der Verkehrsinfrastruktur zwischen 2006 und 2019 deutlich abgerutscht. Drei Viertel aller Unternehmen klagen deswegen mittlerweile über Probleme, etwa durch verzögerte Lieferungen.
Am Geld liegt es also nicht.
Nein, zumindest bei den Fernstraßen nicht. Laut Bundesverkehrswegeplan stehen bis 2030 mehr als 269 Milliarden Euro zur Verfügung. Knapp die Hälfte davon entfällt auf die Autobahnen, davon fließen wiederum 67 Milliarden in den Erhalt bzw. in Ersatzinvestitionen, also in Neubauten. Allein in NRW soll bis 2030 die Rekordsumme von 40 bis 50 Milliarden Euro verbaut werden.
Nur für Brücken auf Bundesstraßen und Autobahnen gibt der Staat in diesem Jahr rund 16,6 Milliarden Euro aus. Das ist die eine Seite. Die andere: Vielen Kommunen fehlt das Geld, um die Straßen zu erhalten. Einer Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zufolge, erwarten mehr als ein Drittel der Städte und Gemeinden, dass sich der Investitionsstau in den nächsten fünf Jahren sogar noch verschärfen wird.
Es fehlt allerdings an Planern.
Richtig. Ex-Landesverkehrsminister Wüst sieht in unbesetzten Planstellen eine der Hauptursachen für die Dauerstaus auf unseren Straßen. Das Problem ist aber hausgemacht. Vor allem unter dem CDU-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (2005 bis 2010) regierte in Düsseldorf der Rotstift, die schlanke Verwaltung war schwer in Mode.
Hunderte Planstellen beim Landesbetrieb Straßenbau wurden trotzt heftiger Proteste gestrichen – Stellen, die heute fehlen. „Bis 2016 hatte die Politik ein Erkenntnisproblem“, sagt Suthold mit Blick auf den lange verdrängten Sanierungsstau. „Jetzt haben wir ein Umsetzungsproblem. An allen Ecken und Enden fehlen Planer und Baufachleute, um das alles abzuarbeiten.“ Kommunen stünden mit den Ländern und dem Bund in Konkurrenz um die begehrten Fachleute. Dirk Kemper nennt noch weitere Gründe für die Malaise.
Es gebe zwar beste Chancen für Berufseinsteiger, „aber wir haben zu wenige Studenten.“ Was auch daran liegt, dass einige Universitäten ihre Ausbildungsangebote zurückgefahren haben. Zwar wird inzwischen wieder eingestellt bei den Ämtern, zugleich aber gehen viele Planer in Rente. „Ich sehe nicht, wie man diese Lücke schnell schließen soll“, sagt Kemper.
Gibt es noch weitere Gründe?
Ja. Einer lautet: ASR A5.2. Dahinter verbirgt sich die 2018 überarbeitete „Arbeitsstättenregel Straßenbaustellen.“ Die Arbeit, gerade an Autobahnen, ist gefährlich, mitunter lebensgefährlich. Zum Schutz der Arbeiter wurde daher zum Beispiel der Abstand zwischen eigentlicher Baustelle und fließendem Verkehr vergrößert.
Folge Nr. 1: Die verbleibenden Fahrstreifen werden schmaler, Folge Nr. 2: Die Staugefahr wächst, weil langsamer gefahren werden muss, Folge Nr. 3, Vollsperrungen werden häufiger. Denn gerade bei Baustellen von kurzer Dauer ist der Aufbau transportabler Schutzplanken und Abtrennungen zu aufwendig. Also wird lieber komplett dicht gemacht.
Könnte nicht mehr nachts und an Wochenenden gearbeitet werden?
Theoretisch schon, und in Nachbarländern ist das sogar üblich. In Frankreich zum Beispiel, aber da „können Sie auch über die Autobahn fahren und sehen manchmal erst nach 30 Kilometer das nächste Dorf“, sagt Suthold. Im dichtbesiedelten NRW hingegen gibt es immer wieder Beschwerden von Anwohnern, die sich vom Baulärm um den Schlaf gebracht sehen. „Die Leute sind sensibler geworden und drohen schnell mit dem Anwalt.“ Viele Arbeiten lassen sich unter Kunstlicht auch nicht fachgerecht ausführen. Aber es muss ja nicht unbedingt in der Nacht gearbeitet werden.
Der ADAC hat gerechnet: Allein durch das Ausnutzen der Tageshelligkeit von April bis Oktober kann bei einer Sechs-Tage-Woche an 80 Stunden gearbeitet werden. „Man muss fairerweise sagen: Hier sind Straßen.NRW und die Autobahn GmbH schon besser geworden, auch wenn das den meisten Autofahrern nicht auffällt“, weiß Suthold.
Die Bauindustrie verweist darauf, dass beim Drei-Schicht-Betrieb höhere Kosten entstehen, weil besondere Arbeitszeiten anders vergütet werden. „Allerdings müssen Wochenend- und Nachtarbeit die absolute Ausnahme bleiben“, sagt Tim-Oliver Müller, denn „unsere Beschäftigten verrichten tagtäglich körperlich schwere Arbeiten.“
Was machen andere Länder besser?
In den Niederlanden werden Autobahnen beispielsweise oft längere Zeit komplett gesperrt. „Damit kann man schneller arbeiten, weil mehr Platz vorhanden ist“, sagt Straßenexperte Kemper. „Das ist auch qualitativ besser.“ Dafür braucht man allerdings gute Alternativrouten. Zudem werden Großbaustellen meist an einen Generalunternehmer vergeben, der den gesamten Zeitplan einhalten muss – und dem bei Fristüberschreitung hohe Konventionalstrafen drohen.
In Deutschland hingegen ist die Auftragsvergabe an mehrere Unternehmen politisch gewollt, um dem Mittelstand eine Chance zu geben. Auch die technischen Ansprüche sind bei den niederländischen Nachbarn andere. Nach dem „Lego-Prinzip“ werden vermehrt Brücken aus vorgefertigten Modulen errichtet – weniger dauerhaft, dafür schneller fertig. In den USA setzt man auf sogenannte bewährte Betonfahrbahnen, die weniger verschleißanfällig sind, weil sie keine Fugen aufweisen.
So ließe sich manche Flickbaustelle vermeiden. Tim-Oliver Müller vom Verband der Bauindustrie ist zurückhaltend: „Experimente im öffentlichen Raum, in dem jederzeit die Sicherheit für den Straßennutzer gewährleistet sein muss, sind gut zu überlegen.“ Allerdings gebe es viele erprobte Baustandards mit Beschleunigungspotenzial: kompakte Asphaltbefestigungen etwa oder Modulbauweisen.
Würden Prämien für mehr Tempo sorgen?
Baufirmen mit einem Bonus zu belohnen, wenn sie früher fertig werden, das funktioniert, sagt ADAC-Mann Roman Suthold – „es kostet nur mehr Geld.“ Deswegen sei der Bund als Finanzierer da zurückhaltend. Das NRW-Verkehrsministerium habe immer wieder angekündigt, stärker mit Bonus- und Malus-Regelungen arbeiten zu wollen. RWTH-Experte Dirk Kemper verweist darauf, dass Großbaustellen zeitlich schwer zu kalkulieren sind: „Keine Behörde will sich da in die Nesseln setzen.“ Und die Sache hat noch einen Haken. „Im Zweifelsfall werden Mitarbeiter von anderen Baustellen abgezogen“, sagt Suthold. Das sieht Kemper ähnlich: „Wenn man an einer Stelle ein Dreischicht-System einführt, liegen woanders Baustellen still.“
Selbst ein Zwei-Schicht-Betrieb funktioniert seiner Ansicht nach nur, wenn man die Bauzeit so strafft, dass die Firmen auch wirklich intensiv arbeiten. Aber die Kontrolle sei schwierig: „Es genügt ja nicht, wenn nach 19 Uhr abends noch ein einsamer Arbeiter mit der Schippe in der Hand irgendwo herumsteht.“
Für mehr Tempo könnte es sorgen, wenn Bauaufträge nicht ausschließlich nach dem niedrigsten Preis, sondern auch nach weiteren Kriterien, wie der Bauzeit, vergeben werden. „Über den ganzen Projektverlauf gesehen lohnt sich das wirtschaftlichste Angebot mehr als das ,günstigste‘“, sagt Tim-Oliver Müller vom Verband der Bauindustrie.
Wie zufrieden sind Autofahrer mit dem Baustellenmanagement?
Nicht sonderlich. In einer Umfrage des ADAC bewerteten 30 Prozent Baustellen innerorts mit „schlecht“, die Hälfte war mittelmäßig zufrieden, gute Noten vergaben nur 17 Prozent. „Beim Baustellenmanagement wurden in den vergangenen zehn Jahren dennoch Fortschritte gemacht“, sagt Suthold, „aber es geht sicher noch besser.“
Könnte eine Reform des Baurechts helfen?
Vermutlich. „Wir müssen deutlich schneller werden“, sagt Autobahn-Chef Krenz, „dafür brauchen wir ein vereinfachtes Baurecht.“ Das Problem: Weicht der Neubau (einer Brücke) stark vom maroden Vorgängerbauwerk ab, ist ein komplettes Planungsverfahren erforderlich. Und das dauert – zumeist vergehen mehrere Jahre, bevor die Bagger anrollen.