2. Tischtennis-Bundesliga : Die außergewöhnliche Karriere des Laurens Devos
Jülich Gegen alle Zweifel: Der Tischtennis-Spieler des TTC Indeland Jülich hat mit erst 22 Jahren schon Geschichte im Para-Sport geschrieben. Der Belgier hat noch ein weiteres großes Ziel vor Augen.
Andere Tischtennis-Spieler hätten in dieser Situation den dritten Satz vielleicht abgeschenkt. Die eigene Mannschaft führt bereits 3:0 gegen einen personell stark geschwächten Gegner; der Sieg ist nur noch eine Frage der Zeit. Warum dann beim Stand von 5:10 noch alles geben und nicht versuchen, das eigene Spiel mit frischen Kräften im vierten Satz zu gewinnen?
Doch so tickt Laurens Devos nicht. Und deshalb dreht er diesen Satz im Spiel seines TTC Indeland Jülich gegen TV Leiselheim noch mit sieben Punkten in Folge; am Ende gewinnt der Tischtennis-Zweitligist mit 6:0 und 18:0 Sätzen.
„Never give up“ – gib niemals auf – sagt der 22-jährige Belgier nach der Partie mit einem Lächeln im Gesicht. Ein Motto, das nicht nur zu diesem Auftritt, sondern auch zu seinem ganzen Leben passt. Denn dass der in Löwen (östlich von Brüssel) lebende Student überhaupt so hoch im Männerbereich antreten und gewinnen kann, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Devos wurde mit einer Halbseitenlähmung geboren; seine Mobilität auf der rechten Körperhälfte ist einschränkt.
„Meine Zwillingsschwester musste früher als erwartet auf die Welt kommen. Dabei hat sie meine Nabelschnur zerstört; ich wurde nicht mehr mit Nährstoffen versorgt“, erzählt Devos. Auch seine Geburt musste vorgezogen werden: „Sonst wäre ich gestorben.“ Sein Leben war gerettet, doch die Folgen der komplizierten Geburt wurden schon bald sichtbar: „Nach sechs Monaten konnte ich noch nicht selbstständig sitzen, was man in diesem Alter eigentlich können müsste.“ Aufnahmen zeigten, dass Gehirnzellen abgestorben waren. „Vermutlich, weil ich für ein paar Sekunden nicht mit Sauerstoff versorgt wurde.“
Wahrscheinlich war eine Karriere mit diesem Handicap nicht – noch dazu in einer Sportart, in der es ganz besonders um Schnelligkeit und Explosivität geht. Nun, 22 Jahre später, könnte Devos den Schläger für immer im Schrank verstauen und würde trotzdem mit noch jungen Jahren als ein außergewöhnlicher Para-Sportler in den Geschichtsbüchern verewigt werden.
Denn seine frühen Erfolge sind beeindruckend: Unter anderem 2015 erstmals Europameister im Einzel und mit der Mannschaft, drei Jahre später erstmals Einzel-Weltmeister, dazwischen 2016 erstmals Goldmedaillengewinner in der Klasse TT 9 – eine Einstufung für den Grad der körperlichen Einschränkung – bei den Paralympics in Rio de Janeiro. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen; erst im vergangenen Jahr holte er bei der Para-WM im spanischen Granada die Goldmedaille im Einzel und Bronze im Doppel.
„Besonders die Zeit im paralympischen Dorf in Brasilien war wie das Eintauchen in eine neue Welt für mich. Und mein Alter kam mir da zugute. Mit 16 habe ich nicht viel nachgedacht und wollte einfach nur Erfahrungen sammeln“, sagt Devos. Mit seinem Dreisatzsieg im Finale gegen den 15 Jahre älteren Niederländer Gerben Last avancierte er zum jüngsten Tischtennis-Spieler, der jemals die Goldmedaille bei Paralympics gewinnen konnte. „Gegen Gerben hatte ich zuvor meist verloren. Doch in diesem Spiel verspürte ich weniger Druck als er, was vermutlich den Ausschlag gab.“

Druck scheint Devos tatsächlich kaum zu kennen. Wer sich mit dem Belgier unterhält, trifft auf einen extrem entspannten und aufgeschlossenen jungen Menschen. Für den es aber dann doch hin und wieder Situationen gibt, die sich im Kopf festsetzen. Wie die Paralympics 2020 in Tokio. „Die Corona-Pandemie hat mich natürlich beschäftigt und meine Routinen durcheinandergewirbelt. Genauso wie der Fakt, als Titelverteidiger anzureisen. Erst als ich im Finale stand und eine Medaille sicher hatte, konnte ich befreiter aufspielen“, erinnert sich der 22-Jährige, der trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und ungewohnten Drucksituation erneut die Goldmedaille nach seinem Sieg gegen den Australier und gebürtigen Chinesen Ma Lin gewinnen konnte.
Richtig nervös war Devos dann anschließend am Telefon: Belgiens König Philippe war am anderen Ende der Leitung, um ihm zu gratulieren. „Das war natürlich ein sehr förmliches Gespräch. Am Ende habe ich mich dann aber etwas salopp vom König verabschiedet, ohne drüber nachzudenken. Das fanden die anderen im Raum natürlich sehr amüsant“, erinnert sich Jülichs Spieler an diesen speziellen Moment.
Ein Moment, der nur möglich wurde, weil Devos schon früh hart und gegen alle Zweifel an sich gearbeitet hat: „Ich bin oft weinend nach Hause gekommen. Aber habe so früh die Grundlagen für die nötige Beweglichkeit bekommen.“ Mit sechs Jahren fing er an, Tischtennis zu spielen. Mit acht, neun Jahren war er bereits Altersklassenbester in seiner Provinz. „Da habe ich irgendwie schon gespürt, dass ich es in diesem Sport weit bringen kann.“ Obwohl er häufig zu hören bekam, dass er aufgrund seines Handicaps nie ein bestimmtes Level erreichen würde. „Das war und ist zusätzliche Motivation für mich.“
Neben dem üblichen Training an der Platte standen und stehen für ihn weiterhin gesonderte Kraftübungen an, um seine rechte Körperhälfte für die Anforderungen des Sports in Form zu halten. Schon eine Woche ohne Workouts hätte große negative Auswirkungen auf seine Kraft und Mobilität. Wer den Linkshänder an der Platte spielen sieht, erkennt: Sein rechter Arm steht bei Schlägen etwas ungewöhnlicher ab; ansonsten wirken seine Bewegungen flüssig und explosiv.

„Ich versuche immer möglichst nah an der Platte zu bleiben, um einen kleineren Bewegungsradius zu haben“, erklärt Devos, der die „Was-wäre-wenn“-Frage nicht beantworten kann: „Seit meinem Kindesalter bin ich es ja gewohnt, mit diesem Handicap zu spielen. Ich weiß nicht, was wäre, wenn ich das nicht hätte.“
Im Kindesalter war es der sechs Jahre ältere Bruder Robin, mit dem Laurens anfing, Tischtennis zu spielen. Bis heute ist der 28-Jährige das Vorbild – nicht etwa Jan-Ove Waldner, Timo Boll oder Ma Long. Seit dieser Saison sind die beiden nun auch im Erwachsenenalter wieder vereint; nach Laurens‘ Wechsel von Zweitliga-Konkurrent TTC GW Bad Hamm bildet das Bruderpaar das obere Paarkreuz in Jülich.
„Robin hat nur Gutes über den TTC, die Infrastruktur, die Fans und alle Menschen im Hintergrund berichtet. Auf sein Urteil kann ich mich natürlich verlassen, deshalb fiel mir der Wechsel auch leicht. Und bereut habe ich es bis heute nicht“, sagt der jüngere der Devos-Brüder, die beide auch in der kommenden Saison für Jülich an der Platte stehen werden.
„Laurens ist spielerisch und menschlich eine echte Verstärkung für uns. Wir wollten ihn schon länger verpflichten. Ich bin sehr froh, dass er nun zu uns gekommen ist und auch erst mal bleiben wird“, sagt TTC-Trainer Miroslav Broda über den 22-Jährigen, der im oberen Paarkreuz bislang bei einer Bilanz von 14:11 steht. Und – trotz aller Erfolge – weiter ehrgeizig ist.
„Wenn du einen Titel holst, möchtest du ihn verteidigen. Das treibt mich an“, erklärt Devos, den es freut, wenn andere Menschen mit Einschränkungen ihn als Inspiration bezeichnen: „Das ist natürlich schön, so etwas zu hören. Ich möchte einfach zeigen, dass du es auch mit einem Handicap weit bringen kannst und dich auch eine Einschränkung nicht stoppen sollte etwas zu tun, was du gerne machst.“
Gerne würde der 22-Jährige auch irgendwann mal in der Bundesliga spielen. Sein größtes Ziel ist aber ein anderes: Neben den Paralympics auch bei den Olympischen Spielen für Belgien anzutreten. „2024 kommt da für mich vermutlich zu früh. Aber 2028 möchte ich unbedingt dabei sein“, sagt Devos, der zurzeit auf Platz 278 in der ITTF-Weltrangliste steht, mit Überzeugung in der Stimme. Auch für ihn scheint es tatsächlich mal ein „zu früh“ zu geben.
Von ihm überzeugt ist auch sein Trainer: „Das, was er macht, macht er perfekt. Was ihm noch fehlt, ist, mehr Variationen in sein Spiel einzubringen, Bälle etwas anders zu verteilen. Wenn er mit seinem System nicht durchkommt, bekommt er noch Probleme“, sagt Broda. Laurens Devos hat also noch etwas Arbeit vor sich. Vor der er sich aber sicher nicht drücken wird. Aufgeben ist schließlich keine Option.