Mönchengladbach : Ein „Eisvogel“ mit der Lizenz zum Fehlermachen
Mönchengladbach Am Mittwochabend saß Nico Elvedi vor dem Fernseher. Champions League, Atlético Madrid gegen Bayern München. „Sehr interessant“, sagt der Abwehrspieler von Borussia Mönchengladbach. „Madrid hat die Münchner gut analysiert.“
Für den 19-Jährigen selbst waren die anderthalb Stunden nicht Unterhaltung pur. „Klar, man hofft immer, dass man guten Fußball sieht.“ Das Augenmerk des Schweizers war aber auch ein professionelles. Am Samstag spielt er mit dem Tabellenfünften beim Tabellenführer der Fußball-Bundesliga, und wenig überraschend will Elvedi mit seinen Kollegen verhindern, dass die Bayern ausgerechnet gegen den ehemaligen Erzrivalen bereits die Deutsche Meisterschaft feiern. Und so schaute der Schweizer U21-Nationalspieler „einigen Münchnern“ genauer auf die Füße. „Kingsley Coman und Doug-las Costa etwa“, erklärt Elvedi seinen Filter. Beide stehen für internationale Klasse, beide sind extrem schnell. „Da muss man höllisch aufpassen“, weiß der Jüngling aus eigener Erfahrung.
Vor rund fünf Monaten feierte der Gladbacher Neuzugang vom FC Zürich sein Startdebüt ausgerechnet gegen die Übermannschaft der Liga. Der Bundesliga-Frischling im Duell mit dem Sprintkönig Coman — der 19-Jährige musste ebenso wie seine Kollegen und das Publikum so manche Schrecksekunde überstehen, bis Borussia in die Spur fand und den 3:1-Sieg schaffte, bei dem Elvedi sogar die Vorarbeit zum 2:0 gelang. „Ich musste mich erst an den Spieler gewöhnen. Mit der Zeit wusste ich dann, was er macht, habe ihn gelesen.“
Seit diesem Zeitpunkt ist der Neu-Borusse sehr belesen, das Risiko, das sein Trainer André Schubert damals einging, hat sich rentiert: für die Mannschaft und für Elvedi selbst. „Der Trainer war mein Jackpot.“ Dabei war Lucien Favre, Schuberts Vorgänger, ein wichtiger Grund, vom FC Zürich an den Niederrhein zu wechseln. Zwar hatte der Schweizer Juniorennationalspieler vor dem Transfer nicht mit seinem Landsmann gesprochen. Aber dessen Renommee als Jungspieler-Entwickler erleichterte die Entscheidung. Als Favre seine Arbeit einstellte, „war ich geschockt“, gesteht Elvedi. Doch der risikofreudige Schubert katapultierte den Blondschopf aus dem Status eines Talents zu einem Bundesligaprofi. Der Durchbruch unter dem vom Naturell her „Bedenkenträger“ Favre wäre sicherlich erst mit Verzögerung erfolgt.
Wesentlicher Bestandteil dessen Arbeit war die Videoanalyse. Worin also würden sich aktuelle Aufnahmen des Jung-Verteidigers von denen vor fünf Monaten unterscheiden? „Es gäbe einen kleinen Unterschied: Ich habe mich weiterentwickelt, besitze inzwischen mehr Erfahrung und traue mir auch mehr zu als vorher.“
Das schützt ihn aber nicht vor Fehlern. Beim 3:1 am vergangenen Sonntag über Hoffenheim unterlief ihm ein krasser Fehlpass, der zum Anschlusstreffer der Gäste führte. „Ein Superfehler“, verkündete sein Trainer. Der Verursacher fasst das nicht als Aufforderung zur Wiederholung auf. „Fehler gehören dazu. Der wird mir aber so schnell nicht wieder passieren“, interpretiert der Schüler den Lerneffekt, den sein Fußballlehrer so überraschend positiv bejubelte.
Diese Verarbeitung von Unzulänglichkeiten aber ist auch eine der großen Stärken des Verteidigers, der bis zur U 18 zentraler Mittelfeldspieler war. Wo andere nach einem Lapsus anfangen, nervös und hektisch zu werden, bleibt der 19-Jährige verblüffend ruhig und findet zurück ins Spiel. Das war am Sonntag so, und das war bei seinem Startdebüt gegen Coman & Co. nicht anders. Deshalb verlieh ihm Schubert den Beinamen „Eisvogel“. Dabei „ärgere ich mich durchaus“, sagt der vermeintlich Kaltblütige. Doch so bescheiden, zurückhaltend und fast introvertiert er außerhalb des Fußballs wirkt, so ruhig und abgeklärt ist und bleibt er auf dem Platz. Genau deshalb fiel der Schweizer den Gladbacher Scouts auf. Und genau deshalb war Max Eberl bereit, für ein Talent stolze vier Millionen Euro zu investieren. „Zwei Jahre später bekommt man ihn nicht mehr“, erklärte der Sportdirektor.
Das scheint auch das Gladbacher Publikum erkannt zu haben. Als Elvedi in der „Schwimmphase“ gegen die Bayern seinen ersten Zweikampf gewonnen hatte, warfen sie ihm tosendem Beifall als Rettungsring zu. „Schön, dass die Fans unseren Weg mitgehen“, goutierte Eberl. Längst hat sich das Talent freigeschwommen. Den Moment, als er zum ersten Mal im Borussia-Park einlief, wird er dennoch nicht vergessen. „Das war einfach gigantisch.“ Ähnlich wie plötzlich vor dem Mann zu stehen, den er einst beim FC Zürich zu seinem Idol erkoren hatte: Raffael. Hat der Brasilianer ihn wiedererkannt? „Einen Balljungen?“, fragt Elvedi suggestiv. „Das würde mir in ein paar Jahren auch nicht mehr gelingen.“
Test mit Zwillingsbruder Jan
Wiedererkennungsprobleme könnte auch sein Zwillingsbruder Jan auslösen, der jüngst im Testspiel gegen Bielefeld vorspielen durfte. Zwar kickt der fünf Minuten Ältere nur für den Zweitligisten Winterthur, ist aber „genau so gut wie ich“, sagt „Benjamin“ Nico. Sollte Jan sich einmal unbemerkt in den Borussen-Kader schmuggeln und unerkannt dessen Part übernehmen, könnte einzig Favre das Geheimnis lüften. Dann wäre auch klar, warum der ehemalige Erfolgstrainer, dessen Vertrag weiterhin ruht, kürzlich in eine Leiter-Runde der Gladbacher platzte. Nicht, wie kolportiert wurde, um seine Freigabe für Galatasaray zu erbitten, sondern um seine Rückkehr einzuleiten. Als Trainer unmöglich — als Video-Analyst willkommen. Ein Mann, der Filmmaterial in Zeitraffer verfolgen und entschlüsseln kann, würde auch den Zwillingsbetrug aufdecken.