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Unicef-Aktion: Wiedereröffnung von Schule in Mossul

Unicef-Aktion „SOS aus den Trümmern" : Ein Ort, um den Krieg zu vergessen

Das Leben tobt in dieser Schule im nordirakischen Mossul, als sei der marode Bau ein unbeschwerter Spielplatz in einem apokalyptisch anmutenden Schlachtfeld. Draußen Trümmer und Ruinen-Landschaft, hier drinnen helle Kinderstimmen.

Es wird Nachlaufen gespielt, es wird geschubst, es wird laut gelacht in der Pause. Aus Klassen dringen Lieder herüber, wie in jeder anderen Schule. Benannt ist die Schule nach Omer Ben Abdulaziz (717 – 720), dem achten Kalifen der Umayyaden. Im historischen Rückblick gilt Omer noch als vergleichsweise milder Herrscher.

Das große Problem der Lehrer

Frieden, Versöhnung, Integrationskraft. Davon können hier die insgesamt 1600 Mädchen und Jungen zwischen sechs und zwölf Jahren nicht genug bekommen. Als Unicef im Oktober 2017 die Omer Ben Abdulaziz School für 40.000 US-Dollar wiederherstellte und den Kindern damit ein Stück Kindheit zurückgab, standen die Lehrer vor einem großen Problem: „Die Kinder freuten sich zwar, waren aber nach allem, was sie erleben mussten, schwer traumatisiert – müde und verängstigt“, berichtet Direktorin Ahlam Mohammed Saeed. Man müsse bedenken, dass „nahezu jedes Kind zu Hause Angehörige verloren hat und Zeuge brutalster Zerstörung wurde“, erklärt sie: „Wir haben die ersten drei Monate nur gesungen und gespielt – und geredet.“

80 Schulen hat Unicef in der Provinz Ninawa, deren Hauptstadt Mossul ist, inzwischen wieder aufgebaut. „Es ist für diese Kinder die einzige Chance auf eine Perspektive im Leben“, sagt die 52-jährige Pädagogin. Alle Mädchen und 90 Prozent aller Jungen in Mossul haben während der Herrschaft der Terrormilz Islamischer Staat (IS) von 2014 bis 1017 drei Schuljahre verloren – und damit enormen Aufholbedarf im Unterrichtsstoff. „Aber die Kinder sind mit großem Ehrgeiz dabei, wir bieten ihnen dafür zwei Schichten morgens und nachmittags an“, sagt Ahlam Saeed. In den zwölf Klassen lernen jeweils 60 bis 80 Kinder. Die meisten sitzen aus Platznot zu dritt auf einer Bank.

Angetrieben werden sie von dem Traum von einem besseren Leben. Das erleichtert ihnen das Lernen. Beim Besuch einer Klasse bitten wir die Schülerinnen zu erzählen, was für sie wichtig war und ist. In der dritten Reihe meldet sich die elfjährige Taiba Abdullah zu Wort: „Die IS-Leute waren sehr böse zu uns. Das Schönste an der Schule ist, dass ich keine Angst mehr zu haben brauche. Und dass ich nach einem Abschluss Arabisch studieren und Lehrerin werden kann.“

Auch Noor (11) und Ala (10) in der ersten Reihe wollen etwas beitragen. Die beiden Mädchen sind beste Freundinnen – eine Freundschaft, die sie in der Terrorzeit nicht er- und ausleben durften. „Meine Mutter hat uns Kinder nur im Haus gehalten, wir durften nicht raus, weil es da zu gefährlich war“, erzählt Ala. „Manchmal haben wir aber auch zu Hause große Angst gehabt, im Garten schlugen sogar zwei Bomben ein“, berichtet sie weiter. Ihr Vater ist tot. Über ihn spricht Ala nicht. Ohnehin gleicht ihr Blick oft dem eines scheuen Rehs. „Das Kind braucht noch Zeit. Es ist noch sehr verschlossen im Vergleich zu früheren Zeiten“, sagt Mutter Khauda Abdullah (42).

Geschützter Raum

Mit Freundin Noor ist Ala in unbeobachteten Momenten durchaus heiter, immer wieder kichern die beiden, als sie den Treppenflur herunterlaufen – man mag sich kaum vorstellen, von welchem Alptraum sich auch Noor im geschützten Raum der Schule befreien muss.

Es war der 15. April 2017 gegen 17 Uhr, als das Leben der Familie eine schreckliche Wendung nahm. Noors Mutter Suad erzählt: „Da kamen vier oder fünf IS-Kämpfer in unser Haus. Das waren Fremde, keine Iraker. Das waren oft die schlimmsten.“ Die IS-Schergen wollten sich bei der Familie verstecken. Ihr Mann habe sie und die fünf Töchter im Nachbarhaus in Sicherheit gebracht. Dann sei er noch einmal mit den Söhnen zurück, um weitere Sachen zu holen.

Ein großer Fehler. Denn was dann passierte, schildert die Mutter so: „In dieser kurzen Zeit fiel die Bombe auf unser Haus, sie haben es dem Erdboden gleichgemacht und tötete nicht nur die IS-Männer, sondern auch meinen Mann und die Jungs.“ Die Töchter, darunter Noor, und der kleine Arif (3), hätten so geschrien, dass sie es nie vergessen würde. Jetzt weint Suad. Zu sehr durchlebt sie das Grauen erneut, wenn sie darüber spricht. Es dauert, bis die 45-Jährige weitererzählen kann.

Vier Monate blieb Suad mit den überlebenden Mädchen und dem Kleinsten im Nachbarhaus: „Wir haben uns nicht mehr auf die Straße getraut und die ganze Zeit in Angst gelebt. Meine Nichten haben uns mit Nahrung versorgt, wenn draußen mal keine Schüsse zu hören waren.“

Wen wundert es, dass Noor bei all dem Stress heute mit Beschwerden an der Bauchspeicheldrüse reagiert? „Das ist mit Sicherheit seelisch bedingt. Ich muss mit ihr regelmäßig nach Bagdad, weil es in Mossul keine medizinische Versorgung dafür gibt“, sagt die Mutter. So müsse sie oft den Unterricht der Tochter ausfallen lassen – in Anbetracht des Nachholbedarfs an Lehrstoff ist das für Noor ein Desaster.

„Aber Noor ist sehr intelligent und fleißig, Lesen ist ihr liebstes Hobby“, sagt Suad, nicht zuletzt um sich mit dieser Äußerung selbst zu beruhigen. Was ihr nicht ganz gelingt, denn sie fügt – wie Alas Mutter auch – hinzu: „Es ist spürbar, dass all der Druck der letzten Jahre tiefe Wirkung in ihr hinterlassen hat. Noor hat sich sehr in sich zurückgezogen.“

Nicht weniger Sorgen macht sich Saida um ihren dreijährigen Sohn Arif. „Wenn man ihn fragt, was er sich wünscht, dann sagt er: ein Gewehr!“ Die Mutter schüttelt unwillig den Kopf: „Das ist das, was er gesehen und erlebt hat.“

Schmusen mit der Puppe

Seine Schwester verarbeitet ihr Trauma anders. In den Momenten, in denen sich Noor oft allein in ihre Gedanken und Gefühlen zurückzieht, wendet sie sich vor allem ihren vier Puppen zu. Mit ihnen kann sie sprechen – im Gespräch mit Menschen hält sie sich zurück, da tut sie sich sehr schwer. Das Kind ist sich dessen bewusst: „Ich kann mit niemandem darüber reden, was ich erlebt habe. Auch nicht mit Ala“, sagt das Mädchen leise und schmust mit ihrer größten Puppe, die ein Kleid mit rosafarbenem Tüll trägt. „Mit ihr spiele und rede ich am liebsten“, verrät uns Noor. Untergekommen ist ihre Familie inzwischen beim Großvater. 16 Personen in einem Haus, wobei sich die Mutter und die vier Töchter einen Raum teilen.

Das Gespräch mit Noor geht ans Herz. Wir reden mit ihr über die Zukunft, von der sie träumt, und sie berichtet von drei Zielen, die sie hat. Und zwar genau in dieser Reihenfolge: „Ich möchte auf jeden Fall Ärztin werden.“ Und: „Ich möchte ein eigenes Haus für meine Familie haben.“ Schließlich: „Am liebsten mit einem eigenen Zimmer.“