Unicef-Aktion „Die Kinder von Mosambik“ : Überleben in der alten Festung
Ibo André wächst im Norden von Mosambik auf der kleinen Insel Ibo auf. Der Sechsjährige erzählt von den angstvollen Tagen, nachdem Zyklon „Kenneth“ seine Heimat zerstört hat - und vom großen Glück des Lernens.
André erzählt davon, von diesen drei Tagen und Nächten voller Angst, als im April dieses Jahres der Zyklon „Kenneth“ wütete – er erzählt vom Fauchen des Wirbelsturms, dem Toben des Meeres und den bis zu zehn Meter hohen Monsterwellen, die sogar noch über die Brüstung der Festung geklatscht sind. Genau dort oben lehnt sich der Sechsjährige heute lässig grinsend über ein Kanonenrohr und sagt: „In dieser Burg waren wir sicher, wir haben uns aneinander gekuschelt, aber die Geräusche waren schrecklich.“
Nur ein paar Quadratkilometer
Die portugiesische Kolonialmacht hatte vor rund 400 Jahren eine wahre Festung gebaut, um die Handelswege nach Indien zu sichern und Angriffen zu trotzen. Nun retteten die 70 Zentimeter dicken Mauern den rund 2000 Menschen, die sich hier in Sicherheit gebracht hatten, das Leben. Hier, auf der kleinen, einst zauberhaften, jetzt zerstörten Insel Ibo im Nordosten von Mosambik. 4,9 Kilometer lang, 4,1 Kilometer breit.
Dieser ruinierte Fleck Erde ist unter dem Mikroskop des Klimawandels ein präzises Beispiel für die Folgen der Erderwärmung. Die Häufigkeit der Wirbelstürme der höchsten Kategorien vier und fünf hat seit 1980 um bis zu 100 Prozent zugenommen, so die US-Ozeanbehörde NOAA. Auch die Wucht von „Kenneth“ überstieg jedwede Vorstellungskraft. Der Wirbelsturm vernichtete auf Ibo auch eine der traditionellsten und edelsten Kaffeeplantagen des Landes, die bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts nach Europa exportierte.
André zeigt uns im Innenhof der Festung die Stelle, an der seine Familie „Kenneth“ mit seinen 230-Stundenkilometer starken Böen überlebt hat: „Wir waren im Museum.“ Wir schauen durch eine schmale Tür hinein. Rund 120 Quadratmeter, kein Tageslicht, nur Skulpturen, Bilder, Exponate – und vor allem Mauern, 70 Zentimeter dick! Mutter Arsia erinnert sich: „Ich habe den Kindern dabei Geschichten erzählt.“
„Aber die furchtbaren Geräusche, das Grollen des Sturmes habe ich immer gehört, ich hatte so große Angst, und die Kinder auch“, erinnert sie sich an diese Tage, an denen es nur eine einzige Frage gab: Hält die Festung? Sie hielt. Aber unter welchem Schrecken der bangenden Klimaopfer?
Drei Kilometer weiter fegte „Kenneth“ das Zuhause der Familie weg, als sei es ein Wattebausch, mit dem der Wind spielt. Nur einzelne Trümmerteile blieben zurück. Wir gehen dorthin und André zeigt uns die Reste des Elternhauses gleich neben einem neuen Gebilde aus Bambus und Holzlatten, abgedeckt mit einer Plane. „Da wohnen wir jetzt“, sagt der Junge und zuckt mit den Schultern. Stolz präsentiert er seinen Schwestern Tina (2) und Sarima (10) die neuen Freunde aus Deutschland. Die Eltern, der Vater ist Fischer, sind nicht da, der Kleine holt zwei Stühle, ganz der Gastgeber – und erzählt. Er erzählt aus dem Leben eines Kindes im verarmten Mosambik, dessen Mitbewohner auf dieser kleinen Insel einen maximalen CO2-Ausstoß von 0,33 Tonnen haben, im Vergleich mit uns Deutschen (9,6 Tonnen) und Amerikanern (16,2 Tonnen) minimal. „Und trotzdem zahlen wir die Zeche“, sagt Bürgermeister Issa Tarmamade bitter. Er ist 69 Jahre alt, liegt damit 13 Jahre über der durchschnittlichen Lebenserwartung in dem ostafrikanischen Land – und ist als Zeitzeuge von fast sieben Jahrzehnten sicher: „‚Kenneth’ war die endgültige Ankunft des Klimawandels auf Ibo.“ Das erhitzte Meer rächt sich. Die Fischerboote seien von der Wucht des Sturms 30 bis 40 Seemeilen weggefegt worden, sagt der Insel-Chef. Auch der Kutter von Andrés Vater ist nicht mehr da.
„Es haben alle überlebt“
„Natürlich waren wir schon immer von Wirbelstürmen betroffen, aber eine solche Heftigkeit hatten wir zuletzt 1891 bei einem einzigen Hurrikan, und der war nur eine Ausnahme“, das weiß der Bürgermeister aus Annalen der Insel. Immerhin kann er sich über das Wichtigste freuen: „Es haben alle überlebt.“
Und das hat die Bevölkerung vor allem ihm zu verdanken. „Die ersten Warnungen kamen eine Woche vorher. Da bin ich mit dem Megafon über die Insel gelaufen und habe den Leuten geraten, entweder in die Kirche oder auf die Festung zu gehen, wenn es soweit ist“, sagt Issa Tarmamade. Sechs Stunden vor Ausbruch des Zyklons, der Himmel war schon schwarz, die Luft extrem heiß und feucht, zog er ein letztes Mal mit dem Megafon durch die Straßen. Zu diesem Zeitpunkt war der Bootsverkehr zur Insel längst eingestellt.
Tagelang habe sich die Bevölkerung vorbereiten – und ihre Häuser sichern können, erzählt der Bürgermeister. Doch immer noch konnte niemand ahnen, dass der Sturm stärker war, als es jede Stabilisierung zu sein vermochte. Der Hurrikan kam mit Getöse. „Ich war in der Kirche, mit 400 anderen, wir haben viel gebetet“, erinnert sich Tarmamade. Er lebt jetzt in einem Hotel, das früher meist ausgebucht war – sein Haus haben auch die Gebete nicht retten können.
Eine ganze Woche habe es gedauert, „bis ein Hubschrauber auch uns endlich gefunden und Lebensmittel abgeworfen hat“, berichtet der Insel-Chef. Die einst so idyllische, auch von Touristen geschätzte, kleine Insel mit wuchernder Vegetation gleicht nach dem Zyklon einem Schlachtfeld. „Wir haben etwa einen Monat gebraucht, bis wir die schlimmste Not im Griff hatten“, sagt der Bürgermeister.
Zu den zerstörten Gebäuden gehört auch das Krankenhaus der Insel, von dem nur noch ein Gemäuer-Gerippe übrig ist – ein umgestürzter Baum liegt darauf. Unicef setzt hier Zelte ein. Die Menschen, die hier leben, sind durch Mangelernährung geschwächt und oft auch krank – in steigendem Maße leiden sie an Malaria, Atemwegserkrankungen und Durchfall. Immunschwache Kinder sind durch diese Krankheiten in Todesgefahr.
Ein Stück Gemeinschaft erleben
Zerstört ist auch die Schule von André, die ebenfalls mit Hilfe von Unicef in Zelte verlagert wurde. „Es ist in so einer Situation ganz wichtig, dass die oft traumatisierten Kinder wieder ein Stück Alltag haben und Gemeinschaft erleben“, sagt Unicef-Krisenmanager Daniel Timme.
In diesem Sinne ist André ein Musterbeispiel. Als wir ihn gefragt hatten, ob wir mit ihm zur Festung und nach Hause gehen können, vergewisserte er sich erst einmal beim Lehrer, ob er nichts verpasst. „Die Schule ist für mich das Wichtigste, am liebsten mag ich Mathematik“, sagt er stolz. Wir plaudern uns durch seine Kindheit zwischen Trümmern, Zelten und Hütten.
Angefangen von seinem absoluten Lieblingsessen (Makkaroni und Fanta) bis hin zur traurigen Geschichte seines kleinen Bruders Abdala: „Der ist gestorben. Er war krank“, sagt André. Dann berichtet der inzwischen sehr aufgeschlossene Junge von seinen besten Freunden: „Die heißen Sanitu und Imitu. Wir verstehen uns einfach total gut und gehen gerne zusammen schwimmen.“ Fußball dagegen mag er nicht. „Anders als die meisten Freunde von mir“, sagt André.“ Dafür aber gehört seine ganze Leidenschaft – man mag es kaum glauben – tatsächlich dem Lernen! „Für mich ist Lernen das Schönste“, strahlt André, der mit wachem Blick sein Umfeld betrachtet. André ist alles andere als ein Strebertyp, aber wissbegierig ist er ohne Ende. Immer wieder schaut er in unbeobachteten Momenten verstohlen in seine Schulhefte, seine geordnete Welt inmitten des Chaos. Da wächst auf dieser kleinen Insel im Indischen Ozean wirklich ein ganz eigener Geist heran.
Der Abschied fällt nicht leicht. Und wovon träumst du eigentlich, fragen wir André zum Schluss. Der Junge zögert keinen Moment: „Von einem wunderschönen Haus, in dem wir alle sicher leben werden.“