Unicef-Aktion „Nie wieder Moria“ : Spiele gegen das Grauen der Flucht
Lesbos Heftige Stürme und Regenfälle setzen der provisorischen Zeltstadt am Ufer der Ägäis zu, Krankheiten verbreiten sich. Unicef hilft den häufig traumatisierten Mädchen und Jungen.
Die dramatischen Zustände im Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos halten an. Ein dreijähriges Mädchen aus Afghanistan wurde am Montag vergangener Woche in einer der Latrinen vergewaltigt. Als sie gefunden wurde, war sie kaum mehr bei Bewusstsein. Es war bereits stockfinster in der Zeltstadt am Ufer der Ägäis. Für die aktuell 7500 Migranten fühlt sich das Lager im Lockdown seit Wochen wie ein Gefängnis an.
Wieder einmal regnete es heftig an diesem frühen Abend bei stürmischen Küstenwinden: Die Kulisse für ein unfassbares Verbrechen. Die griechische Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen. „Wir sind völlig fassungslos“, sagt Judith Wunderlich-Antoniou, Chefin des von Unicef unterstützten Elix Learning Centers, das mit Hilfe unserer Spenden über 2500 Lagerkindern Spiel- und Lernmöglichkeiten anbietet. Welchen Wert das hat, weiß die pädagogische Leiterin: „Für die Kinder sind unsere Angebote das absolute Highlight des Tages. Sie können sich hier begegnen und sich nur auf sich selbst fokussieren, ohne die ständigen Überlebensfragen ihrer Familien. Das ist für die Kinder ein Geschenk! Wenn diese Kinder im Lager die Chance haben, zu lernen, dann schalten sie alles andere um sich aus.“
Eigene Spiele entwickelt
Das Team von Judith Wunderlich hat für die oftmals traumatisierten Mädchen und Jungen im Lager besonders geeignete Spiele entwickelt, „vor allem Kreisspiele, die es den Kindern ermöglichen, sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen und Gruppenprozesse fördern“, erklärt sie.
Wunderlich lässt die Kinder auch Kreuzworträtsel mit Klebezetteln spielen: „Damit erlernen die Kinder das Schreiben des griechischen und lateinischen Alphabetes“, sagt die Lehrerin. „Wenn sie auch nur zwei Jahre aus ihrer Bildungs-Biographie herausfallen, dann hat dies Auswirkungen auf das ganze Leben des Kindes.“
Zwar scheint in diesen Tagen mal wieder die Sonne über Lesbos. Aber die lange Regenzeit hat im Lager Spuren hinterlassen: Das Wasser war auf dem aufgeschütteten Kiesboden des ehemaligen Militärgeländes nicht mehr abgelaufen und drohte, in die 1070 Behausungen gespült zu werden. Die Bewohner haben Gräben ausgehoben, um ihre Wohnfläche von nur sieben Quadratmetern plus Vorzelt trocken zu halten.
Derweil hat Ärzte ohne Grenzen begonnen, die Bewohner gegen Tetanus zu impfen. „Babys werden in nassen Zelten von Ratten gebissen“, sagte zuletzt der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Einige Kinder erleiden Brandwunden, weil sie über die kleinen Gaskocher stolpern, mit denen ihre Eltern die Zelte etwas erwärmen wollen. Auch von Krätze sind Kinder häufig befallen. Es gibt immer noch kein warmes Wasser und keine Duschen in Kara Tepe. Häufig kommt es zu Stromausfällen. Selbst die Planung des Aufbaus der 40 Unicef-Spielzelte wird durch Kompetenz-Rangeleien in der Camp-Führung verzögert. „Eigentlich sollten sie alle schon längst stehen, wir üben uns ständig in Improvisationen“, sagt Judith Wunderlich.
Rucksäcke und Masken
Ungeachtet aller Widrigkeiten sind zahlreiche Spiel- und Lernausstattungen vor Ort bereits eingetroffen, berichtet die Elix-Leiterin. Aus bisherigen Spenden wurden unter anderem 200 Schulbänke finanziert, sowie große Matten für jedes Zelt und Rucksäcke und Masken für über 3000 Kinder im Camp. Unicef verteilt auch Winterkleidung.
Die 13 Elix-Mitarbeiter betreuen die Kinder mit viel Leidenschaft: „Wenn sie schon von weitem rufen ‚meine Lehrerin, meine Lehrerin’, dann weiß ich, wofür ich diesen Job mache“, sagt die Pädagogin Sophia Georgara (24). „Die Kinder vergessen in der Zeit bei uns alles, was sie belastet.“ Ob Hamid (7) aus Syrien oder Diana (6) und Sadaf (8) aus Afghanistan: Alle drei nehmen regelmäßig an den Treffen teil, auch unter freiem Himmel. Von dem starken Regen ließ sich die kleine Sadaf nicht irritieren: „Sie nahm einfach auf der klatschnassen Matte Platz und blieb dort sitzen“, berichtet Wunderlich: „Es war eine Demonstration der Zugehörigkeit, ein stummer Hilferuf.“
Unicef und Elix übernehmen mit dem Bildungsprojekt eine Aufgabe, für die Europa zuständig ist. Artikel 14 der EU-Grundrechte-Charta gibt vor, dass jedes Flüchtlingskind spätestens drei Monate nach Asylantragstellung der Eltern ein Recht auf Schulbildung hat. Fakt ist: Nur drei Prozent der Migrantenkinder auf den griechischen Inseln sind eingeschult. Europa sollte sich schämen.