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Unicef-Spendenaktion: „Ich weiß nicht mal mehr, wie meine Mutter aussah”

Unicef-Spendenaktion : „Ich weiß nicht mal mehr, wie meine Mutter aussah”

HIV hat viele Kinder als Waisen zurückgelassen. Shadrick und Sandikonda waren noch im Grundschulalter, als ihre Eltern starben. Seitdem mussten sich die Brüder mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Denn Hilfe haben sie von niemandem bekommen. Was bleibt, ist ein Leben ohne Perspektive.

Plötzlich stehen wir mitten in einem kleinen Kreis plattgetretener Erde. Darauf verstreut liegen abgeknickte Halme, ein bisschen Plastikmüll und ein verbeulter Topf. In drei großen Schritten hat man die Fläche überquert: Es ist der Ort, an dem Shadrick, Sandikonda und ihr jüngerer Bruder Christopher etwa drei Jahre lang als Kinder gehaust haben. Geschützt von nicht mehr als ein paar Bambusstangen und Plastiktüten, die sie behelfsweise zu einer Art Zelt geformt haben. Hier schliefen die drei vor Jahren, kurz nachdem ihre Eltern gestorben waren – ausgesetzt den Gezeiten, den Vorurteilen und der Vernachlässigung.

Wir treffen Shadrick und Sandikonda, die mittlerweile 17 und 15 Jahre alt sind, an einem Donnerstagmorgen in ihrem Zuhause in Mbemba, einige Autominuten entfernt von der Stadt Blantyre. Der Weg zu ihnen ist mühsam, die Straße eine einzige Buckelpiste mit Berg- und Talfahrten. Selbst auf dem Fahrrad, das sonst das Haupttransportmittel in Malawi ist, kommt man hier nur schwer voran.

 Auf dieser kleinen Freifläche haben Sandikonda (l.), Shadrick nach dem Tod ihrer Eltern für drei Jahre gehaust. Ihr kleiner Bruder war damals gerade einmal ein Jahr alt.
Auf dieser kleinen Freifläche haben Sandikonda (l.), Shadrick nach dem Tod ihrer Eltern für drei Jahre gehaust. Ihr kleiner Bruder war damals gerade einmal ein Jahr alt. Foto: Thoko Chikondi

Schmerzhafte Erinnerungen

Die Brüder führen uns den Hügel hinauf - vorbei an dem traurigen Zeugnis ihrer damaligen Schlafstätte - zu einem kleinen Lehmhaus, das sie mittlerweile zu dritt bewohnen. Der kleinere Bruder Christopher ist nicht auffindbar, vermutlich arbeitet er gerade auf dem Feld, erklären die jungen Männer. Auf dem Boden vor dem Haus sitzend beginnen die beiden zögerlich, ihre Geschichte mit uns zu teilen. Immer wieder blicken sie dabei starr ins Leere. Ihre Erzählungen sind gespickt mit kleinen Ungereimtheiten und Gedächtnislücken: Denn vieles, von dem sie uns erzählen, ist geschehen, als sie noch sehr klein waren. Vor etwa elf Jahren sind Mutter und Vater an den Folgen von Aids gestorben. Shadrick war damals erst sechs Jahre alt und gerade eingeschult worden - seine Brüder vier bzw. ein Jahr alt. „Ich weiß nicht mal mehr, wie meine Mutter aussah”, sagt Sandikonda.

Die ersten Wochen nach dem Tod der Eltern haben die drei noch bei ihrer älteren Schwester wohnen können. Doch schnell gab es mit deren Ehemann Probleme, der sich weigerte, drei weitere Menschen zu ernähren. Er setzte seiner Frau ein Ultimatum. Sie entschied sich für ihre Ehe und gegen die zwei hilfsbedürftigen Jungen und das Baby. Die mussten ausziehen und waren plötzlich obdachlos. Mehr schlecht als recht bereiteten sich die Brüder auf der freien Fläche am Fuß des Hügels ein Lager und schliefen auf dem Boden – mehrere Jahre hausten sie so. Komplett auf sich allein gestellt, weil es keine anderen Verwandten gab, die sich um sie kümmern wollten. Bis eine lokale Nichtregierungsorganisation (NGO) sich ihrer annahm, und zumindest ein kleines Haus errichtete, in dem die Kinder Schutz fanden.

Dinge, die Jungs in diesem Alter sonst machen, waren für Shadrick und Sandikonda undenkbar: Der eine brach die Schule unmittelbar ab, der andere begann gar nicht erst richtig damit. Denn „wenn wir nach Hause kamen, war da nichts zu essen”. Wenn sie also die Schule besuchen wollten, mussten sie in Kauf nehmen, hungrig zu Bett zu gehen. Denn Schulessen gab es zu dieser Zeit in der nahe gelegenen Grundschule noch nicht. Sandikonda kann deshalb heute nur seinen Vornamen schreiben. Bei Shadrick ist es ähnlich.

Um zu überleben, mussten sich die Brüder schon damals im Grundschulalter mit Gelegenheitsjobs durchschlagen - und das müssen sie bis heute.

Ausbeuterische Gelegenheitsjobs

Als wir sie besuchen, sind die beiden extra früher von der Arbeit zum Haus zurückgekehrt, denn in dieser Woche pflügen sie eigentlich für einen Landwirt einen nahe gelegenen Acker. Der Bauer habe ihnen 4500 Kwacha angeboten – das sind umgerechnet etwa vier Euro. Für eine Woche Arbeit. Die Kinder kennen das Spiel schon: Oft sei die Fläche dann viel größer als vereinbart. Viele Erwachsene in Malawi beuten die Kinder zusätzlich aus, weil sie wissen, dass auch Sandikonda, Shedrick und ihr Bruder Christopher keine andere Wahl haben, als jedes Angebot zu akzeptieren.

Ein Blick durch das offene Fenster in das Haus zeigt uns das winzige Schlafzimmer der Jugendlichen. Sandikonda weist auf das klapprige Bettgestell, auf dem die drei zusammen schlafen. Eine Matratze gibt es nicht. Von dem Geld, das sie verdienen, „können wir einmal pro Tag essen”, sagt sein älterer Bruder Shadrick und führt uns zur kleinen Feuerstelle neben dem Haus. Doch auf dem Boden liegen nur drei Steine. Asche oder verkohltes Holz sieht man nirgends: Hier wurde ganz offensichtlich tagelang nicht gekocht. Höchstwahrscheinlich haben die drei schon länger nichts Warmes zu Essen gehabt, schämen sich aber, es zuzugeben.

 Der 17-jährige Shadrick zeigt uns die Kochstelle der Brüder. Vor unserem Besuch wurde hier offenbar tagelang kein Feuer gemacht. 
Der 17-jährige Shadrick zeigt uns die Kochstelle der Brüder. Vor unserem Besuch wurde hier offenbar tagelang kein Feuer gemacht.  Foto: Thoko Chikondi

Berichte wie diese kennt Malla Mabona gut. Die resolute Frau ist bei Unicef für den Kinderschutz tätig und hat ständig mit solch komplizierten Fällen wie dem der drei Brüder zu tun. Im Fachjargon nennt man sie einen „childheaded household” - also ein Haushalt, der von Kindern geführt ist. 1,3 Millionen Waisen gibt es in Malawi. Das heißt, dass etwa jedes zehnte Kind ohne Mutter und Vater aufwächst.

Oft ist es wie bei den Brüdern, denen das HI-Virus die Eltern genommen hat. Immer noch sterben aber in Malawi auch zu viele Frauen bei der Geburt ihrer Kinder oder kurz danach. Und im vergangenen Jahr kam dann ein weiteres Problem hinzu: Corona.

„Malawi nutzt ein erweitertes familiäres System”, erklärt Malla. Das heißt, dass bei Todesfällen innerhalb einer Familie die Waisen von Großeltern oder anderen Verwandten aufgenommen werden. „Aber von Corona waren plötzlich so viele Menschen betroffen, dass es schwierig wurde, sich auch um die erweiterte Familie zu kümmern.” Deshalb sei die Zahl der Kinderhaushalte während der Pandemie-Monate signifikant gestiegen. Wie schlimm die Lage genau ist, könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen: „Wir warten noch auf die Ergebnisse der offiziellen Erhebungen. Außerdem geht unsere Arbeit gerade erst wieder richtig los, und wir sehen erst jetzt so langsam das komplette Ausmaß des Problems.”

Gefährdete Kinder

Solche Kinderhaushalte allgemein zu identifizieren, sei schwierig, sagt Malla: Denn Kinderschutz-Mitarbeiter sind oft für ein riesiges Gebiet verantwortlich. Deshalb hat Unicef in Malawi ein großes Netzwerk aus freiwilligen Helfern aufgebaut, die trainiert und für die typischen Probleme in den Familien sensibilisiert werden. Dazu gehören zum Beispiel häusliche Gewalt, Kinderarbeit, Teenager-Schwangerschaften oder auch erzwungene Kinderehen. Manche Jugendliche mit Problemen gehen direkt auf die Ehrenamtler zu, andere werden bei Freizeitprogrammen von Unicef als solche ausgemacht.

Und in vielen Fällen entdecke man gefährdete Kinder und Jugendliche eben auch nur, weil die Ehrenamtler durch die Dörfer patrouillieren und nach Kindern Ausschau halten, die eigentlich gerade in der Schule sein sollten. Sie folgen ihnen sogar oft bis nach Hause, um dann vor Ort bei den Eltern – oder in diesem Fall eben den Geschwistern – mehr über die Probleme zu erfahren.

 Malla Mabona arbeitet bei Unicef als Kinderschutzbeuftragte.
Malla Mabona arbeitet bei Unicef als Kinderschutzbeuftragte. Foto: Thoko Chikondi

„Die Kinderschutzmitarbeiter überlegen dann mit den Familien, welches Netzwerk an Unterstützung es gibt und entwickeln einen Plan, um den Haushalt zu ertüchtigen und die Kinder zu unterstützen”, sagt Malla. Bei manchen Familien sind die Maßnahmen schnell umzusetzen, bei anderen dauert es, bis sich die Lage der Kinder zum Positiven verändert.

Im Fall von Shadrick, Sandikonda und Christopher zieht sich der Prozess schon lange hin. Zu lange. Denn die Sozialarbeiter kennen die Jungs seit Jahren, verändert hat sich kaum etwas zum Guten. Mittlerweile wohnen die drei Brüder zwar in einem richtigen Haus, sind vor Regen, den heißen Temperaturen und Stürmen geschützt. Doch ohne Bildung haben sie keinerlei Perspektive für die Zukunft. Keine Perspektive auf ein Entkommen aus der Armut.

Theoretisch wären sie in ihrer Situation prädestiniert für das sogenannte „Cash Transfer Programm”, das von Unicef initiiert wurde. Es ist eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für besonders sozial schwache Familien und wird unter anderem von der Kreditanstalt für Wiederaufbau Deutschland (KFW) finanziert. Allerdings gibt es in diesem Fall ein Problem. Denn generell gilt, dass die lokale Dorfgemeinschaft die Namen der Empfänger vorgelegt bekommt und dem Vorschlag zustimmen muss, damit die Gelder ausgezahlt werden.

Aberglaube und Missgunst

Eigentlich ist es ein gutes System, da die Menschen vor Ort häufig am besten einschätzen können, wer besonders auf Hilfszahlungen angewiesen ist. Allerdings ist das System auch anfällig für Neid, Missgunst und Vorurteile: Und tatsächlich verhinderte die Dorfgemeinschaft, dass die Brüder das Geld bekommen. Malla Mabona erklärt uns das Problem: „Die Menschen machen die Kinder für den Tod der Eltern verantwortlich.” Noch heute hält sich mitunter hartnäckig das Gerücht, dass Kinder, deren Eltern an Aids sterben, Vater und Mutter umgebracht hätten – ein Aberglaube, der mit Unwissenheit rund um HIV zu tun hat.

Bis die Sozialarbeiter die drei Brüder erneut für das Cash-Transfer-Programm vorschlagen können, dauert es noch ein paar Jahre. Und auch für ein anderes Hilfsprogramm wie einer handwerklichen Ausbildung für Straßenkinder kommen sie eigentlich nicht in Frage, weil sie eben nicht obdachlos sind. Nach unserem Besuch wollen die Sozialarbeiter aber noch einmal einen Versuch wagen, sie in dem Ausbildungsprogramm unterzubringen. Shadrick möchte eines Tages sein Geld als Bauarbeiter verdienen, Sandikonda träumt von einem Leben als Schreiner.

Sandikonda - das heißt „Ich werde nicht geliebt“. Eine große Bürde, die die Eltern vor ihrem Tod dem kleinen Jungen mit auf den Weg gegeben haben.
Sandikonda - das heißt „Ich werde nicht geliebt“. Eine große Bürde, die die Eltern vor ihrem Tod dem kleinen Jungen mit auf den Weg gegeben haben. Foto: Ines Kubat

Sein Blick wird hart, als er uns schließlich die Bedeutung seines Namens erklärt „Sandikonda, das heißt ‚Ich werde nicht geliebt’“. Diesen Namen haben die Eltern ihm mitgegeben, weil sie ihn offenbar nicht wollten – es ist wie ein lebenslanger Stempel für ihn und auch seine Brüder. Die Waisenjungen, die nicht geliebt werden. Und nichts haben als einander.