Nachgefragt : „Für diese Kinder ist es sehr schwer, ihre Bildungsdefizite auszugleichen“
Kindern auf der Flucht drohen Dauerschäden durch fehlenden Schulbesuch. Drei Fragen an Julia Burmann, Spezialistin für Kinderrechte bei Unicef Deutschland.
Ein Junge wie Yosif ging mit seinen 13 Jahren noch nie zur Schule. Wie wirkt sich das auf sein Leben aus?
Julia Burmann: Für Kinder, die nie oder nur sehr kurz eine Schule besuchen konnten, ist es sehr schwer, ihre Bildungsdefizite auszugleichen. Die Lücken bei der Grundbildung haben einen großen negativen Einfluss auf alle weiteren Schritte, natürlich bis hin zu ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Jede Chance, Kindern und Jugendlichen zu ihrem Recht auf Bildung zu verhelfen, muss genutzt werden – sowohl in ihren Heimatländern als auch in Übergangs- und Aufnahmekontexten. Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, dass ungefähr die Hälfte aller Flüchtlingskinder weltweit nicht zur Schule geht.
Welche Folgen hat das langfristig?
Burmann: Laut einer Studie des UNHCR von 2019 sind Flüchtlingskinder schon beim Start benachteiligt. Nur 63 Prozent von ihnen – im Vergleich zu 91 Prozent weltweit – gehen in die Grundschule. Danach wird die Lücke noch dramatisch größer: Weltweit bekommen 84 Prozent aller Kinder eine weiterführende Schulbildung – bei Flüchtlingen sind es nur 24 Prozent. Die langfristigen Folgen sind vielschichtig. Bildung ist der Schlüssel zur Ausübung einer menschenwürdigen Arbeit und ökonomischer Unabhängigkeit. Gleichzeitig kann Schule auch ein Schutzort sein, und der Schulalltag kann Kindern helfen.
Die meisten Kinder auf Lesbos haben nächtliche Bootsfahrten mit Todesängsten hinter sich. Wie tief sitzt das Trauma eines solchen Erlebnisses?
Burmann: Die Traumata, die Kinder und Eltern im Krieg oder auf der Flucht erlebt haben, sind für uns kaum vorstellbar. Aber auch die Unsicherheit im Ankunftsland, die prekäre Wohnsituation, das Gefühl der Isolation wirken sich auf die psychische Gesundheit aus. Viele der geflüchteten Kinder und Erwachsenen brauchen zumindest psychologische erste Hilfe, um den Alltag bewältigen zu können. Auch die Schule kann hier eine wichtige Rolle spielen und Sicherheit im Alltag vermitteln und den Fokus auf die Potenziale der geflüchteten Kinder legen.