Unicef-Aktion „Nie wieder Moria“ : Der „Zeltplatz mit Meerblick“ ist keine Idylle
Moria Ein Besuch bei einer Flüchtlingsfamilie, die nach dem Brand des Lagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos nun im Camp Kara Tepe eine neue Bleibe gefunden hat.
Rußgeschwärztes Metallgestänge, verbogenes Wellblech, abgebrannte Olivenbäume, dazwischen Trümmerreste eines Infernos. Es ist Mittag. Die Sonne wirft ein gleißendes Licht auf die Schreckensszenerie, der Himmel ist wolkenlos. Totenstille in Moria, dem Sinnbild der gescheiterten Flüchtlingspolitik Europas auf Lesbos, der drittgrößten Insel Griechenlands.
Die Sicht vom einstigen, besonders beengten Lager-Teil „Dschungel“ auf die schimmernde Ägäis ist nach Jahren möglich, die abgebrannten Hütten und Zelte haben den Blick freigegeben. Rundum herumfliegender, verkohlter Müll, Kabel, Wasserflaschen, zerbrochene Stühle, verfeuerte Waschmittel, Kinderpuppen und Besteck. Stumme Zeugen für ein Dasein ohne Hygiene und Bildung, mit viel Gewalt und Schlaflosigkeit.
Moria. Benannt nach dem kleinen, lauschigen Bergdorf ganz in der Nähe, heute weltweit bekannter Inbegriff eines Hotspots der Unmenschlichkeit. Konzipiert für 2800 Personen, aber von bis zu 20.000 genutzt. Erst die Flammenhölle vom 8. September, vermutlich ausgelöst von jungen Flüchtlingen, machte den Schandflecken Europas dem Erdboden gleich – und beendete gleichzeitig das Gefängnisleben im Corona-Lockdown auf engstem Raum.
Die Kameras der aufgeschreckt-fassungslosen und zuvor so gleichmütigen Welt sind abgezogen. Für ungezählte streunende Katzen ist diese Hölle ein wahrer Abenteuerspielplatz. Am einstigen Haupteingang des Lagers, vor dem Papst Franziskus bei einem Besuch Kinder segnete und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wegen drohender Unruhen kehrtmachen musste, vertreiben sich drei Polizisten gelangweilt die Zeit. Aus der fast irritierenden Stille dringt die Stimme eines groß gewachsenen Mannes, der wie unwirklich dieser Welt aus Ruß und Asche entsteigt, ein Kind an der rechten, eine blaue Plastiktüte in der linken Hand. „Ich habe noch ein paar Dinge gefunden, die man gebrauchen kann“, berichtet uns der Pakistani Mekbool Hussein. In der Tüte finden sich vier Farbstifte, zwei Kinderpullis, drei Sweatshirts und ein Heft. „Immerhin“, sagt der Vater und schaut seine fünfjährige Tochter Hurrein liebevoll an.
Er zeigt sein einstiges „Zuhause“, ein verkohltes Stangen-Gerippe im Gefälle eines schwarzen Olivenhains. Kein Abschied unter Tränen: „Die Zeit in Moria war hart. Stundenlang mussten wir für Wasser oder Lebensmittel anstehen, es gab zu wenig Latrinen, Duschen, alles zumeist kaputt, aber vor allem gab es viel Gewalt und Aggression.“
Das nächtliche Großfeuer hat die Familie nahezu unversehrt überlebt, auch Mutter Shahida (22) und die beiden anderen Kinder Bali Sakina (4) und Ali (2): „Ich habe sie alle geweckt, wir konnten gerade noch die wichtigsten Sachen, vor allem die Dokumente, mitnehmen. Das Feuer kam mit dem starken Wind in einem irren Tempo.“ Die Eltern und ihre drei kleinen Kinder liefen, wie fast alle, bergab in Richtung Inselmetropole Mytilini und kampierten an der Zufahrtsstraße einige Tage unter freiem Himmel. Mekbool bringt die Situation auf den Punkt: „Wir wussten einfach nicht mehr wohin.“ Lesbos, ein Pulverfass.
Schließlich folgte die Familie – wie rund 8500 weitere Personen, darunter mehr als 3000 Minderjährige – dem Ruf der Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR und der griechischen Regierung, ins neue Camp Kara Tepe (Schwarzer Hügel) zu ziehen, einem einstigen Militärübungsgelände in staubiger Geröllwüste, unmittelbar vor den Toren von Mytilini. Eine Stadt aus Zelten, die mit Helikoptern über die Köpfe protestierender Insulaner hinweg eingeflogen und binnen weniger Tage aufgebaut wurden. Helle UNHCR-Zelte, nummeriert von 1 bis 1070 für jeweils zwei Familien, direkt am Ufer der Ägäis.
273 ist die Nummer des neuen Zuhauses unserer Moria-Bekanntschaft, der Familie von Mekbool Hussein. Wir machen uns auf den Weg und treffen am Eingang zu Kara Tepe auf eine etwa hundert Meter lange Menschenschlange. Geduldig reihen sich die Migranten zur Dokumentenkontrolle sowie zum Gepäckcheck mit Metalldetektoren ein. Von 8 bis 19 Uhr dürfen die Insassen das Camp verlassen. Waffen und Alkohol sind verboten – theoretisch. Im Lagerinneren passieren wir als erstes die hermetisch umzäunte Quarantänestation für Covid-19-Infizierte und ihre Familien.
Wir schlängeln uns durch das dichte Labyrinth aus Zelten in Richtung 273, über unzählige Stangen, gespannte Leinen und unter trocknender Wäsche hindurch. Wir gehen vorbei an Menschen, die Moria hinter sich gelassen haben – und wieder einmal eine Hoffnung vor sich. Vorbei an Vertriebenen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und dem Iran, Somalia oder Nigeria. Menschen, die einer Welt mit Folter und sexueller Gewalt, Verbrennungen und Hieben, Explosionen und abgeschlagenen Köpfen entronnen sind – und sich jetzt nach der Hölle von Moria an einem Ort wiederfinden, der zynisch „Zeltplatz mit Meerblick“ genannt wird.
Der Ausdruck der Gestrandeten von Kara Tepe ist ausgemergelt, müde, gezeichnet von Zweifeln. Wir sehen Mütter beim mühseligen Schieben von Buggys oder Kinderwagen über den Geröllboden, Väter beim Transport von Wasservorräten, Latten oder gar einer Matratze. Vor den Zelten hocken Frauen und waschen Geschirr oder Kleidung, sie baden ihre Kinder in kleinen Bottichen, schälen Orangen oder bereiten Essbares über einem Feuer zu. Zumindest haben sie das Gefühl, aktiv zu sein. Für die meisten anderen gilt: Zeit ist im Einerlei des Camp-Alltags eine Ressource zum Totschlagen.
„Europa habe ich mir anders vorgestellt“, sagt Mekbool Hussein, der den Schleusern für den Horror der nächtlichen Bootsfahrt von der Türkei nach Griechenland 6000 Euro zahlen musste. Sein Fluchtgrund lag in der oft brutalen archaischen Kultur seiner Heimat. „Mein Cousin hat meinen Vater erschossen. Es gab Streit innerhalb der Familie. Da war mir klar, dass auch mein Leben gefährdet war“, berichtet der Mann. In der Tat ist die Zahl der Ehrenmorde in Pakistan in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Als Taxifahrer verdiente Mekbool einst nicht schlecht. Aus und vorbei. Nach der Flucht folgten 18 Monate Moria, jetzt Kara Tepe, sein Asylverfahren läuft immer noch, 290 Euro erhält die fünfköpfige Familie monatlich vom UNHCR.
Ihr Lebensraum ist etwa zwei mal drei Meter groß. Grauen Filzbelag hat der Vater für den Boden aufgetrieben. Er reicht bis zur dünnen Wand in der Zeltmitte, der einzigen Abtrennung zu den Nachbarn. Privatsphäre? Fehlanzeige. Ein paar Decken, Kissen, Kleidung, kein Spielzeug – abgesehen von den vier Farbstiften aus dem Müll von Moria. Schließlich: eine Lampe, ein Netzstecker mit vier Dosen, Strom wird durch Solarzellen erzeugt – dessen Festanschluss ist ebenso in Vorbereitung wie Leitungen für Wasser, das bislang das Camp nur in Tanklastern erreicht. Die griechische Armee hält täglich drei Liter Wasser sowie eine Mahlzeit pro Person bereit.
Das Leben im neuen Lager ist zumindest friedlicher geworden. „Im Unterschied zu Moria wurde mehr darauf geachtet, verschiedene Kulturen, Araber, Afrikaner, aber auch Familien und alleinstehende junge Männer auseinanderzuhalten“, sagt Unicef-Mitarbeiter Sokratis Vlachakis. Bislang habe es „noch keinen ernsthaften Vorfall gegeben“. In Moria, berichten viele, kam es täglich zu Messerstechereien – und zu sieben Toten allein im ersten Halbjahr 2020.
„Wir werden wieder wegziehen müssen. Unser Zelt liegt zu nahe am Ufer“, sagt Mekbool Hussein. Besorgt inspiziert er das aufgeschüttete Erdreich am Meeresufer, das im Winter den Wellengang stoppen soll. Schon jetzt eine Illusion. Bereits Tage später passiert es. Das Wasser sucht sich andere Wege, anhaltende Regenfälle durchfluten die Nummer 273 und 80 weitere Zelte. Die Familien sind ein Stück den Schwarzen Hügel hinaufgezogen, größer ist ihr neues Heim nicht geworden. Inzwischen erhielten die Zelte Regenschutzhüllen. Maßnahmen für den Brandschutz sind ebenfalls in Arbeit.
Die vier Farbstifte von Mekbools Tochter aus Moria sind dem Unwetter von „Kara Tepe“ zum Opfer gefallen.