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Unicef-Aktion „Nie wieder Moria“: Auf der Flucht gibt es keine Freunde

Unicef-Aktion „Nie wieder Moria“ : Auf der Flucht gibt es keine Freunde

Yosif ist nach einer langen und qualvollen Reise auf Lesbos gelandet. Eine verlorene Kindheit in den Mühlen der Weltpolitik.

Schutzraum, Obhut, Pulverfass. Das ist „Tapuat“, jener Ort verlorener Seelen unweit des abgebrannten Schreckenslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos. 27 unbegleitete Mädchen und Jungen und besonders schutzbedürftige Mütter haben hier letzte Zuflucht gefunden. Insgesamt 76 Familien mit 121 Kindern. Opfer von Konflikten aus aller Welt, denen nur eines gemeinsam ist: jahrelange Flucht zum Teil durch Wüsten, über Berge, Tausende Kilometer den Launen von Natur und Polizei ausgesetzt, transportiert in Schleuserbussen und bei nächtlichen Bootsfahrten von Todesängsten begleitet.

„Tapuat“ ist das Wort für „Labyrinth“ in der Sprache der Hopi-Indianer. Sprichwörtlich irren in dem Unicef-Projekt Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Iran, Irak oder Kongo herum. Im Labyrinth ihres entwurzelten Lebens – auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg. Aber immerhin in Sicherheit. Das gelbe Gebäude inmitten eines umzäunten Geländes mit ausladenden Tamriskenbäumen und Freiflächen ist auch die vorübergehende Heimat von Yosif, einem 13-jährigen syrischen Jungen, der noch nie wirklich Kind sein durfte.

Wir lernen ihn kennen, als er Fußball spielt. Allein. Mit einem halb platten Ball. „Ich habe keine Freunde“, sagt er. „In Moria musste ich immer auf sie aufpassen“, berichtet Yosif – und wirft seiner Mutter Amal Elatia (39) einen kurzen, aber liebevollen Blick zu. Wir setzen uns zusammen und hören die Geschichte seiner Kindheit ohne Freunde, Schule und Versorgung.

Es war 2013, als Yosifs Vater vom sogenannten Islamischen Staat (IS) getötet wurde. Als noch das Elternhaus bombardiert wurde, packten Mutter und Sohn die Habseligkeiten zusammen und begaben sich auf die Flucht. Dabei mussten beide „um unser Leben laufen“, erinnert sich der Junge. Zwei Schüsse erwischten Amal Elatia in Hüfte und Rücken. „Bis heute kann ich nicht richtig gehen“, sagt die Mutter. „Wir versuchten erst in der Heimat, in Idlib, dann in Afrin einen Neuanfang“, berichtet sie. „Doch wir mussten viel auf der Straße schlafen.“

Als das türkische Militär die „Operation Olivenzweig“ startete und das kurdische Afrin im Januar 2018 attackierte, wurden erneut rund 200.000 Menschen in die Flucht getrieben. Auch Yosif und seine Mutter gerieten erneut in den Kugelhagel. Es blieb ihnen keine Wahl, erzählt Amal Elatia: „Wir schlugen uns bis zur Türkei durch. Vor der Überfahrt nach Lesbos mussten wir uns auf Bäumen verstecken. Nachts durften wir dann an Bord. Nur Frauen und Kinder waren auf dem Boot. Ich hatte schreckliche Angst.“ Auch vor der griechischen Hafenpolizei von Mytilini, die sich in der Vergangenheit zuweilen gezieltes Zurückdrängen solcher Boote vorwerfen lassen musste. Ungesehen oder zumindest geduldet von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, wie unter anderem die Tagesschau berichtete. 

Amal Elatia und Sohn Yosif erreichten ihr Ziel. Griechenland. Europa. Genauer gesagt: dessen Schandlager Moria, für 2800 Menschen konzipiert, von bis zu 20.000 genutzt. „Das war kein Ort für ein Kind“, sagt Yosif. Mutter und Sohn lebten ganz oben am Olivenhang im besonders beengten und berüchtigten „Dschungel“ des Camps, außer­halb des offiziellen Lagers. Einem Ort, an dem Gesetze und Menschenrechte ausgehebelt waren.

Yosif berichtet: „Stundenlang mussten wir aufs Essen warten. Es gab kaum Duschen, wenig Toiletten, viel Gewalt. Deshalb musste ich nachts auf meine Mutter aufpassen. Geschlafen habe ich meistens erst am Morgen.“ Die Verantwortung steht ihm ins Gesicht geschrieben, dessen Züge erwachsen wirken. Dass es Tag für Tag ums Überleben in Moria ging, bestätigt auch die Einheimische Wulla Petrou, Krankengymnastin im Hospital der Hafenstadt Mytilini: „Jeden Tag hatten wir durch Messerstechereien Verletzte in der Notaufnahme.“ Bei insgesamt sieben Opfern konnte im ersten Halbjahr 2020 nur noch der Tod festgestellt werden.

In dieser Welt lebten Amal Elatia und ihr Sohn 18 lange Monate. Rund 550 gefährliche Nächte und 550 Tage der Entbehrung. Yosif sah, wie Nachbarn manchmal eine ganze Ziege über offenem Feuer zubereiteten, die sie beim Bauern im idyllischen Bergdorf Moria gestohlen hatten. Mundraub von ausgelaugten Menschen, die im Nichts ohne Hoffnung leben.

Der Junge geriet auch in Szenen radikaler Islamisten, die im Umfeld Altare, Insignien, Bilder, Büsten, Bänke griechischer Bergkapellen kurz und klein schlugen. Yosif kann nicht ahnen, dass unter Umständen Täter wie diese vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, so glauben es viele Insulaner, gezielt zur Destabilisierung des Erzfeindes Griechenland eingeschleust wurden. Spannend findet Yosif, dass sich die türkischen und griechischen Kampfjets zuweilen am Himmel ein Scharmützel liefern – staunend verfolgt er sie. Dabei weiß er nicht, dass es um Erdgasrechte und viele Milliarden Dollar geht.

Yosif ist in die Mühlen der Weltpolitik geraten. Und die gingen in der Nacht zum 8. September sprichwörtlich gemeinsam mit den europäischen Werten in Flammen auf. Der Junge erinnert sich: „Das Feuer hat aus dem Nichts begonnen. Sofort war es dicht an unserem Zelt, starker Wind machte alles noch schlimmer.“ Die Panik war groß. Seine Mutter konnte wegen der Folgen ihrer Schussverletzungen nicht laufen. „Also habe ich sie den ganzen Hang heruntergetragen. Wir konnten nur schnell ein paar Sachen einpacken und haben dann sieben Tage auf der Straße verbracht.“ 

Ein letztes Stück Kindheit hat sich Yosif aber dann doch erhalten können: Träume haben zu dürfen. Bei dem Stichwort lächelt er erstmals in unserer Runde auf vier Gartenstühlen etwas abseits von spielenden Kindern im „Tapuat“-Garten. Wie aus der Pistole geschossen sagt er: „Ich will Pilot werden.“ Aber ohne Schulbildung, Yosif? (Siehe auch Interview) Der Junge hat die Hoffnung nicht aufgegeben: „Ich möchte nach Deutschland. Ich möchte sicher leben. Und zur Schule gehen.“ Immerhin hätten ihn auf manchen Fluchtstationen „immer wieder Nachbarn unterrichtet“. Auch in Moria.

Vielleicht will er auch Fußballer werden, fügt Yosif hinzu. Wie Liverpool-Star Mohamed Salah, der sein großes Vorbild ist. Im Plaudern rund um den Fußball nehmen wir Abschied. Yosif holt ein feuchtes Tuch und wischt damit unseren Rucksack und die Fototasche ab, die auf staubigem Boden standen. 

Am Tag darauf kehren wir noch einmal in das Unicef-Projekt „Tapuat“ zurück. Die Stimmung im gelben Haus und drumherum ist spürbar bedrückt. In der Nacht war es zu einer Eskalation unter Jugendlichen gekommen. Fenster wurden zertrümmert. Ein Konflikt in einem der Schlafsäle konnte nur mit Gewalt geklärt werden. Wie es alle Beteiligten von Kindheit an gelernt haben.

Yosif war nicht darunter. Das ist gut so. Aber er lebt weiterhin in „Tapuat“, im Labyrinth seiner verlorenen Kindheit.

Unicef-Reporter im Gespräch