Unicef-Aktion „Nie wieder Moria“ : Als Mutter allein auf der Flucht
Lesbos Zwischen Traum und Trauma: Die 29-jährigen Afghanin Kobra Korbani und ihr fünfjähriger Sohn Yasser sind auf Lesbos gestrandet, ohne Ehemann und Vater, ohne Schutz. Sie erzählt ihre Geschichte.
Frauen auf der Flucht. Nur begleitet von ihren Kindern. Zumeist, weil ihre Ehemänner, Väter und Brüder getötet oder gefangengenommen wurden. Weil sie als Soldat eingezogen wurden oder als Rebell kämpfen. Die Frauen bleiben zurück in ständiger Angst vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, Hunger und Krankheit.
In diesem Spannungsfeld lebt die 29-jährige Afghanin Kobra Korbani, die bereits auf der Flucht war, als ihr Mann im Jahr 2017 im Iran an Leukämie starb und sie plötzlich gemeinsam mit dem gemeinsamen Sohn Yasser (heute fünf) allein in der neuen Heimat dastand. Nur der Schwager stand ihr noch zur Seite – das wurde ihr zum Verhängnis. „Er hat mich misshandelt, immer wieder“, berichtet Kobra beim Spaziergang durch den weitläufigen Garten des Unicef-Projekts „Tapuat“. 76 Frauen und 121 Kindern steht dort ein geschützter Raum im Inselinneren zur Verfügung, fern ab vom Lagerleben in Kara Tepe.
Der Blick geht ins Leere
Kobras Blick geht immer wieder ins Leere. Ihre Erscheinung wirkt zerbrechlich, die Züge um ihren Mund sind verhärtet. „Sie ist schwer traumatisiert“, sagt Olga Siouku-Siova, Sprecherin von Unicef-Griechenland.
Und dann hören wir Kobras Geschichte. Nach und nach. Ganz langsam, ganz leise berichtet sie aus ihrem Leben. Die 29-Jährige erzählt, wie die radikal-islamischen Taliban in Afghanistan ihre Familie in die Flucht trieben und sie zunächst im Nachbarland Iran Fuß fassten: „Ich fand dort eine Arbeit als Näherin, musste aber in der Werkstatt schlafen. Das war sehr hart“, sagt sie. Aber immerhin: „Wir konnten unseren Sohn, der dort geboren wurde, versorgen.“ Tragisch: Nachdem es ihrem Mann gelungen war, die Heimat lebend zu verlassen, kam der Tod – völlig überraschend. Ohne richtige medizinischen Versorgung starb ihr Mann an Blutkrebs.
Kobras Leben, sowieso schon voller Entbehrungen, schlug in Angst und Qual um. „Der Bruder meines Mannes war nicht mehr wiederzuerkennen, es wurde immer schlimmer. Er brach mir die linke Hand, die Nase und bedrohte mich mit dem Tod.“ Immer öfter wurde ihr Kind Zeuge der Misshandlungen. Es blieb nur noch eine Entscheidung: „Ich musste weg.“
1700 mühsam ersparte Dollar kostete die Flucht durch den Nordosten des Iran in die Türkei, weitere 1200 Dollar die nächtliche Bootsfahrt auf die Insel Lesbos. Endstation: Moria, Europas größtes Flüchtlingslager, ohne genügend sauberes Wasser, Hygiene, Nahrung. Vor allem aber ohne Sicherheit im berüchtigten „Dschungel“, dem illegal angrenzenden Camp, wo sich Zelte und Hütten dicht an dicht den Olivenhain bergabwärts reihten. „Dort habe ich kaum eine Nacht geschlafen“, berichtet Kobra. Plötzlich hält sie inne und weint.
Erinnerungen kommen wieder hoch an die Fortsetzung ihres Martyriums. Denn auch in Moria wurde die auf sich allein gestellte junge Frau Opfer sexueller Gewalt. Dort, wo die Ägäis in einem Postkartenidyll mit Sonne und blauem Himmel erstrahlt, herrscht Gesetzlosigkeit, mitten auf europäischem Boden. Was der kleine Yasser durchmachte, kann man nur erahnen. Die Mutter geht liebevoll mit ihrem Sohn um, ist aber kaum in der Lage, auf das Kind zu reagieren – der Junge wirkt scheu, anlehnungsbedürftig, seine Bewegungen sind langsamer als bei Kinder in diesem Alter. „Elf Monate waren wir in Moria“, sagt Kobra, ohne eine Miene zu verziehen. Starr blick sie auf den Boden.
Ein Opfer der Flammen
Dann die Nacht, als in Moria das Feuer ausbrach, das alles vernichtete. „Yasser hat mich geweckt“, berichtet sie. „Ich konnte gerade noch die wichtigsten Dokumente und Fotos greifen, weil die Flammen im starken Wind immer näher kamen. Unsere Kleidung – verbrannt.“ Vier Tage campierten die beiden auf der Straße, dann fanden sie Hilfe im Unicef-Center „Tapuat“, ein Begriff der Hopi-Indianer für „Labyrinth“, in dem sprichwörtlich auch Kobra steckt – auf der Suche nach einem Ausweg.
Selbst ein angedeutetes Lächeln mag in dem einstündigen Gespräch kaum aufkommen. „Seit dem Tod meines Mannes kenne ich keine Freude mehr. Ich möchte nur noch, dass mein Sohn Yasser glücklich ist. Ich hoffe auf ein Leben ohne Angst“, sagt Kobra.
Als Flüchtling ist sie anerkannt. Ihre Schwester lebt bereits in Dresden. Auch Kobra zieht es nach Deutschland. „Dort ist alles gut“, glaubt die junge Mutter. Und dann lächelt sie das erste Mal.