Unicef-Aktion „SOS aus den Trümmern“ : Als ein Scharia-Richter ihr Leben veränderte
Mossul Die beiden Brüder Mohammed und Azad haben sich die Terrormiliz Islamischer Staat zum Feind gemacht und erlebten das Grauen. Ihnen wurde eine Hand abgehackt.
Tief atmet der Chefarzt des zu 40 Prozent zerstörten Khanza-Hospitals von Mossul durch. „Vom Ultraschallgerät bis zum Stift fehlt uns alles“, sagt Klinikchef Dr. Sarmad Zuheir. Von Handprothesen ganz zu schweigen. Daran hätten geschätzte 750 Menschen, denen die Schergen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) Gliedmaßen amputierten, ein nachvollziehbares Interesse. Auch die beiden Brüder Mohammed (25) und Azad (23).
„Für ihre gesundheitliche Versorgung durch Operationen oder Prothesen gibt es im gesamten Irak keine Möglichkeit“, sagt Unicef-Mitarbeiterin Claudia Berger.
Wir treffen die jungen Männer in der Klinik, in der das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen unter anderem die pädiatrische Abteilung wieder aufgebaut hat. Aber die beiden Brüder geben sich keinen Illusionen hin: „Hier im Irak kann man uns nicht helfen, das geht nur in Deutschland“, sagt Azad und reibt angespannt seine linke Handfläche um den Stumpf am rechten Unterarm.
Sie wollen erzählen, unbedingt
Es war am 6. Mai 2015 um die Mittagszeit, als ein Scherge eines Scharia-Gerichts des IS ihm und seinem Bruder die jeweils rechte Hand abhackte – in aller Öffentlichkeit im Zentrum Mossuls. Jetzt wollen die Geschwister ihre Geschichte loswerden, sie wollen sie unbedingt erzählen. Und damit auch die ihrer Stadt, die nach der Zerstörung von rund 40.000 Häusern nur noch in Trümmern liegt. Mitgekommen sind auch die Eltern, Vater Hasan Sultan (54), ehemals Taxifahrer, und Mutter Bayan Kaseem (48). Sie alle wollen reden. Unfassbares erzählen.
Rückblick: Drei Jahre lang, zwischen Juni 2014 bis Juli 2017, schikanierten die Dschihadisten die Zivilbevölkerung, „die anfangs gegenüber dem IS zunächst völlig arglos war und glaubte, sie erhalte Unterstützung im ständigen Streit mit der schiitischen Regierung in Bagdad“, erinnert sich Azad, der wie die meisten im Nordirak sunnitischen Glaubens ist. Doch schon ein halbes Jahr nach der Machtübernahme im Juni 2014 schwante den jungen Männern Böses. „Im Januar 2015 wurde unser ältester Bruder Omer an einem Checkpoint vom IS umgebracht – er war Soldat in der Armee“, berichtet Mohammed vom ersten großen Schicksalsschlag dieses Jahres. Dennoch konnten die beiden Brüder nichts von der verhängnisvollen Gefahr ahnen, in die sie sich begaben, nachdem ein Geschäftspartner ihnen 2300 US-Dollar schuldig geblieben war.
Azad und Mohammed führten eine kleine Werkstatt zur Herstellung von Sesampaste, das Geschäft lief gut – solange alle Außenstände stimmten. Das jedoch war bei einem ihnen sehr wohl bekannten Händler schon lange nicht mehr der Fall. In drei Rationen hatte er Paste gekauft – und nie bezahlt. Als mehrere Monate vergangen waren, machten die beiden das, was alle Gläubiger dieser Welt tun – sie erzeugten Druck. Der Schuldner zahlte immerhin etwas mehr als ein Drittel, rund 800 US-Dollar.
Fahndung über den IS-Sender
Was die beiden nicht wussten: Der Mann war der Sohn eines Scharia-Richters und Bruder eines einflussreichen IS-Kämpfers. „Ein typischer Denunziant“, sagt Azad. Mit Erfolg habe der Schuldner seine Familie mobilisiert. Von der Fahndung bekamen die beiden Brüder „relativ schnell“ Wind, wie sie erzählen. „Der IS verbreitete das über seine Propagandasender“, erinnert sich Azad. Mohammed, der Ältere, stellte sich und kam sofort in ein Gefängnis. Der Jüngere versuchte zu fliehen, wurde aber an einem Checkpoint identifiziert und ebenfalls eingesperrt. „Wir wurden beide wegen Diebstahls und Bedrohung von IS-Aktivisten zum Tod durch Erhängen verurteilt und warteten vier Wochen in einem Kerker auf unser Ende“, berichtet Azad.
Hinter einem Stück Vorhang eines großen Krankensaales im Khanza-Hospital haben wir für das Gespräch ein wenig Privatsphäre schaffen können. Die Eltern hängen an den Lippen ihrer Söhne, während sich ihre Augen immer neu mit Tränen füllen. „Wir haben von alldem nichts mitbekommen“, schluchzt der Vater. „Wir hielten uns bei Freunden in Bagdad auf, weil meine Frau an einer Erkrankung der Gebärmutter litt. Das konnte nur in der Hauptstadt behandelt werden.“ Beide hätten in dieser Zeit die Söhne gesucht: „Aber die Handys blieben stumm, und niemand konnte uns sagen, wo sie sind“, erinnern sich die Eltern an ihre verzweifelte Lage.
So ahnten sie sich nichts von der Todesangst ihrer Söhne. Auch nichts davon, wie die beiden von der zynischen Laune eines saudischen Richters erfuhren – ihnen das Leben zu schenken, aber die rechte Hand zu nehmen. „Wir wissen bis heute nicht, warum er das Urteil geändert hat“, sagt Azad. Als Begnadigung hätte er den Sinneswandel ohnehin nicht verstanden. „Ich habe dem Richter gesagt, dass man uns ja auch gleich den Kopf abschneiden könne“, erinnert er sich.
Geschätzt 700 bis 800 Schaulustige kommen zur Vollstreckung in die Hayil-Karama Street im Zentrum der Stadt. Viele werden wohl auch von der IS-Miliz gezwungen, an dem Schauspiel teilzunehmen. Der IS hat sogar via Internet eine Live-Übertragung eingerichtet. „Die Zuschauer habe ich kaum wahrgenommen. Aber an das Video kann ich mich noch genau erinnern, als es gemacht wurde. Das machte ein Asiat“, sagt Azad, der jedes Detail des barbarischen Aktes in seiner Erinnerung präsent hat – und sogar auf dem Smartphone abgespeichert.
Er zeigt uns Video-Clips und Fotos von der Vollstreckung des Urteils. Eine unvorstellbare Szene, pures Grauen, das mittelalterlich anmutet. Azad bringt sein eigenes Erleben fast nüchtern auf den Punkt: „Angst und Schmerz fühlen sich gleich an.“
Ein schwarz maskierter Vollstrecker drückt Mohammed beziehungsweise Azad den Kopf nach unten auf die Tischplatte. Der Jüngere, damals gerade 20 Jahre alt, sagt: „Das Schlimmste war, als sie meine Hand betäubt haben und mein Bruder vor mir zu dem Tisch ging, an dem seine Hand – wie später meine – mit einem scharfkantigen Holz fixiert wurde.“ Dann rammt der zweite maskierte Vollstrecker das stumpfe Ende seines Dolches auf den Balken. Ein Mediziner mit langem weißen Bart, der zuvor bereits die Betäubung gesetzt hat, versorgt daraufhin professionell die Stümpfe der beiden Opfer und bindet sie ab. Beide Männer bleiben bei all dem bei Bewusstsein.
Die Sonne sticht an jenem schrecklichen Mittwoch vom Himmel, es ist heiß. Die Menschenmenge löst sich langsam auf, für die Brüder sind es nur wenige Gehminuten vom Ort des Grauens bis nach Hause. „Wir können uns an den Weg nicht mehr erinnern, jemand hat uns gebracht“, meldet sich jetzt auch Mohammed zu Wort, der ansonsten lieber seinen jüngeren Bruder sprechen lässt. Ihre Werkstatt ist zerstört worden, das Auto hat man ihnen abgenommen.
Es folgt die schwere Begegnung mit den Eltern nach deren Rückkehr aus Bagdad. Zu allem Übel ist in dieser Zeit Vater Hasan auch noch auf eine Minenfalle vor der Haustür getreten und von 17 Granatsplittern getroffen worden. Er hat Schmerzen, aber Geld für eine Operation ist nicht da.
Erst der Tod des ältesten Kindes, Omer, dann die Verstümmelung der beiden anderen Söhne. Das Leid droht anfangs die Familie zu zerbrechen. Doch die Mutter, Bayan Kaseem, wächst in dieser Zeit über sich hinaus. „Sie machte uns beiden den Vorschlag, im Bekanntenkreis nach einer Ehefrau Ausschau zu halten“, sagt Azad, dabei lacht er, und seine dunklen Augen leuchten. „Die Jungs waren doch ohne Hilfe nicht mehr lebensfähig“, beschreibt die resolute Mutter ihre Intention, auch heute noch überzeugt, damals das Richtige getan zu haben.
Student und Maurer
„In beiden Fällen hat sie eine sehr gute Entscheidung getroffen“, schmunzelt Azad. Eine schnelle noch dazu. Denn bereits am 29. Oktober 2015, also kaum sechs Monate nach dem traumatischen Ereignis, feiern die Brüder eine Doppelhochzeit. „Natürlich haben wir keine große Feier gemacht, mit Tanz und so, denn Omer war ja erst Anfang des Jahres ums Leben gekommen“, erklärt Azad, als sei sein eigenes Schicksal nicht Grund genug für fehlende Lust am Tanzen. Für ihn ist jede Minute des Tages eine Herausforderung. Wenn er sich ein T-Shirt überstreifen will, einen Reißverschluss schließen – sein Handstumpf erinnert ihn an sein Schicksal.
Inzwischen studiert Azad Arabisch an der zu Teilen wieder eröffneten Universität von Mossul. „Zwei mühsame Jahre habe ich gebraucht, um mit der linken Hand schreiben zu können“, sagt er. Seine Perspektive? „Ich möchte gerne Lehrer werden. Aber ob ich hier Arbeit finde – ich weiß es nicht.“ Sein Traum? Und wieder blitzen seine Augen. „Deutschland.“
Auch Mohammed kämpft sich durchs Leben. Trotz seines Handicaps arbeitet er inzwischen als Maurer. „Meine Kollegen helfen, wo sie können“, sagt er tapfer.
Wir nehmen nach den schwierigen Gesprächen sehr herzlichen Abschied. Die bohrende Frage danach, wie viel Leid eine Familie ertragen kann, erfährt plötzlich eine überraschende Wende. „Wir sind übrigens beide inzwischen Väter geworden“, erzählt Azad stolz, während wir gemeinsam die überfüllten, muffig bis rußig riechenden Klinikflure durchqueren. Mohammed unterstreicht seine Freude mit breitem Grinsen.
Leben mit Sohn und Tochter
Mit Azads Sohn Amin (1) und Mohammeds Tochter Zaina (2) nimmt die Familie einen neuen Anlauf ins Leben. In ihrem gemeinsamen Haus, das vom Krieg verschont wurde. Die Familie verlässt die Klinik und taucht im Labyrinth der Ruinen von Mossul unter. Die beiden Brüder verabschieden sich auf ihre Weise. Sie klatschen sich nicht mit der linken Hand ab, sie reiben sich den rechten Stumpf.
Die nächste Folge unserer Unicef-Serie aus Mossul lesen Sie am Montag, 26. November.