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Eger: Sanft segelndes Konfetti am Himmel: Gleitschirmfliegen in Ungarn

Eger : Sanft segelndes Konfetti am Himmel: Gleitschirmfliegen in Ungarn

Wie bunte Konfetti segeln sie durch die Luft. So sieht es aus der Ferne aus. Doch sie flattern nicht zu Boden. Die roten, grünen, gelben und blauen Gleitschirme trotzen der Schwerkraft, steigen auf, drehen sich wieder und wieder um die eigene Achse, um dann die Richtung zu wechseln und in völliger Ruhe und majestätischer Gelassenheit zu gleiten.

Wer diesen Tanz beobachtet, ist unweigerlich gebannt. Wie das wohl sein mag da oben? „Es ist Freiheit. Du kannst es mit absolut nichts vergleichen, und keiner kann es dir erklären”, sagt László Nagy. Der 35-jährige Ungar ist vor zehn Jahren zum ersten Mal Gleitschirm geflogen.

Hier im Norden von Ungarn, etwa 140 Kilometer entfernt von der pulsierenden Millionen-Metropole Budapest, befindet sich das Städtchen Eger. Es liegt zwischen dem Bükk- und Mátra-Gebirge und beherbergt neben seinen barocken Bauten und der Jahrhunderte alten Weinkultur auch eine leidenschaftliche Gleitschirmflieger-Gemeinschaft.

„Ich habe es von Tibor gelernt”, sagt László. In seiner Stimme schwingt eine Mischung aus Stolz und Ehrfurcht. Wir sitzen im Auto auf dem Weg zum Übungshügel in Bekölce. Tibor Farkas blickt konzentriert auf die Straße. Seine Haut ist braun gebrannt, aus dem T-Shirt luken muskulöse Arme hervor, und der Kurzhaarschnitt ist zweckmäßig. Dass er sich an einem Schreibtisch nicht wohlfühlt, ist leicht zu erkennen.

„Du musst keine Angst haben”, sagt Tibor zu mir, „Paragliding ist überhaupt nicht gefährlich. Das einzige, was gefährlich ist, ist der Mensch, der fliegt”. Deswegen sei es so wichtig, einen Kurs zu absolvieren. In seiner Schule Mátra Extrém bietet er auch zertifizierte Kurse auf Deutsch und Englisch. Ich werde heute zum ersten Mal Tandemfliegen.

Auf dem Hügel angekommen, holen Tibor und László das Material aus dem Auto, während ich mir feste, knöchelhohe Schuhe anziehe. Mehr benötigt man erst einmal nicht. Nebenan auf dem Übungsplatz schaut ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und weißem Rauschebart kritisch in Richtung Wetterfahne. Er sagt etwas, und alle brechen in schallendes Gelächter aus.

„Es ist ungefähr so viel Wind, als hätte ein Schmetterling gekotzt”, übersetzt mir László die frohe Botschaft. Traurig baumelt die gelb-rote Flagge fast regungslos von der Stange. „Vielleicht müssen wir ein bisschen warten, aber das geht schon”, sagt Tibor. Paragliding ist stark vom Wetter abhängig, daher müssen Kursteilnehmer auch sieben bis zehn Tage einplanen.

Langeweile muss keiner an windstillen Tagen in Eger befürchten. Die geschichtsträchtige Stadt ist ein wunderbarer Ausflugsort. Wer trotz Flaute in die Luft möchte, dem wird ein Flug mit Tibors Ultraleicht-Flugzeug eine umwerfende Aussicht bescheren.

László und der Bärtige, er heißt ebenfalls László, breiten einen blauen Schirm sorgfältig auf dem Boden aus. Tibor bringt mir das Gurtzeug. Ich steige hinein, er schließt alle Schnallen und kontrolliert ihren Sitz. Ich gehe ein paar Schritte und muss schmunzeln. Die gepolsterte Sitzfläche hängt auf halbmast und schlägt mit jedem Schritt gegen die Rückseite der Oberschenkel. Wie eine Zweijährige mit Windel stapfe ich unbeholfen zum Rest der Truppe.

Ich bekomme einen orangenen Helm, und Tibor schaut nochmal, dass alle Leinen des Schirms freiliegen und nicht verknotet sind. Mein Blick schweift über den 70 Meter langen Hang, der sich vor mir erstreckt. Er sieht nicht allzu bedrohlich aus.

Ich bin freudig gespannt, nicht ängstlich. Dafür vermittelt Tibor zu viel Sicherheit. Eine Brise weht mir ins Gesicht. „Los, schnell”, sagt Tibor, „wir haben Wind!”. Wir stehen mit dem Gesicht zum Hang. „Halt dich mit den Händen am Sitzpolster fest. Sobald wir in der Luft sind, musst du dich nach hinten drücken.” Wir laufen los. Als der Abhang steiler wird, blitzt bei mir kurz ein Bremsreflex auf. Doch da merke ich schon, wie meine Füße ins Leere treten.

Wir sind hoch oben in der Luft. Ich schiebe mich nach hinten in den Sitz und bin überwältigt. László hatte recht. Es ist kaum in Worte zu fassen. Keine Millisekunde nachdem wir den Boden verlassen haben, breitet sich ein wohliges Kribbeln in meiner Mitte aus. Ein Glücksgefühl durchströmt mich, ein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit. Sanft segeln wir in großen Kurven durch die Luft.

Enttäuschend schnell kommt der Boden näher, und dann ist es vorbei. Tibor guckt mich verschwörerisch grinsend an. Sein Blick sagt „Jetzt verstehst du es, oder?” Tue ich. Tibor hat früh gespürt, dass es ihn in die Luft zieht. Mit 14 begann er, auf einem Segelflugzeugplatz zu arbeiten. „Aber es war nicht so, dass man fliegen konnte, wann man wollte.” Mit Sehnsucht beobachtete er damals Gleitschirmflieger. „Sie waren so unabhängig, keine Maschine, kein Team”, erinnert er sich. Kurzerhand hat er sich im Alter von 19 Jahren einen Schirm, Gurtzeug und ein Buch gekauft und es sich selbst beigebracht.

Zwei Jahre später lernte er Peter, seinen Lehrer, kennen und legte in Budapest die Prüfung ab. Kurz darauf folgten dann Wettkämpfe. Einmal ist er bei einem nationalen Wettkampf sogar Zweiter geworden, erzählt er bescheiden.

Wir laufen den Hügel wieder hoch. „Das ist das Sportlichste am Gleitschirmfliegen”, sagt Tibor. Einmal hätte er einen Schüler gehabt, der sich oben am Übungshang angekommen, erstmal zehn Minuten auf den Rücken gelegt hat und sagte: Das mache ich nie wieder. „Am Ende des Kurses, konnte er dann vier Mal hintereinander den Hügel hochlaufen”, lacht Tibor.

Ich stehe mit dem Gesicht zu einem vor mir ausgebreiteten pinken Gleitschirm. Ich soll nun lernen, ihn zu kontrollieren. Diese Trockenübungen am Boden sind wesentlicher Bestandteil des Grundkurses. Ziel ist es, den Gleitschirm mit Luft gefüllt gerade über dem Kopf zu halten. Klingt einfach, ist es aber nicht. Ich gehe rückwärts, ziehe dabei die Leinen hoch, und schon schlägt der Wind mit voller Wucht in den Schirm. Ich taumel nach vorne, dabei kippt der Schirm über meinen Kopf. Zu weit nach hinten. Ich werde zurückgerissen und muss mit vollem Körpereinsatz dagegen steuern.

Nach einigen Anläufen schaffe ich es ansatzweise, den Schirm aufrecht zu halten. „Wir haben keine Flügel, kein Gefühl für die Luft und das Fliegen. Deswegen muss man viel üben, um dieses Gefühl langsam zu entwickeln”, weiß Tibor. Kaputt und glücklich falle ich am Abend ins Bett.

Am nächsten Morgen geht es zum 200 Meter hohen Startplatz in Eged. „Hoffentlich macht der Wind mit”, sagt Tibor, und seine Stirn legt sich in Falten. Bei dieser Höhe ist es möglich, Thermik zu fliegen. Das heißt, dass der Pilot die aufsteigende warme Luft nutzt, um selbst kreisend aufzusteigen. Falls gewünscht, sogar bis unter die Wolkendecke. „Wenn das Wetter gut ist und man gute Thermik findet, kann man über 100 Kilometer weit fliegen”, erklärt Tibor. Seine Schüler lernen das Thermikfliegen dann im zweiten Kurs. Nach bestandener Prüfung erhalten die Teilnehmer den internationalen Schein, der sie berechtigt eigenständig zu fliegen.

Ich linse den Abhang hinunter. Mir wird ein bisschen mulmig. Eged ist eine ganz andere Hausnummer als der kleine, putzige Hügel vom Vortag. László, Tibor und ich warten auf Wind. Mein Zug fährt bald, und die Zeit ist knapp. „Es hilft nichts”, sagt Tibor, „wir müssen rennen, und zwar so schnell wir können”. Meine Magengegend zieht sich zusammen.

Wir strampeln mit aller Kraft gegen den Wind, die Bäume rauschen gefährlich nahe auf uns zu. Wir sind direkt an der Kante, unter uns nur Geröll und Gestrüpp. Gerade als ich denke, dass wir es nicht schaffen, heben wir auf magische Weise ab und segeln knapp über die Baumwipfel. Mein Herz klopft wie verrückt. Tibor nimmt es gelassen, er wusste ja, dass es klappt.

Winzig klein sind die Häuser von Eger. Es ist atemberaubend. Wir drehen uns im Kreis, steigen höher und höher. Tibor lacht und genießt die Freiheit. „Ich liebe das: In der Luft zu sitzen wie ein Vogel, weit weg von der Zivilisation und verbunden mit der Natur”, schwärmt er. Wir kosten den Flug aus, solange es geht. Am Boden angekommen würde ich am liebsten sofort nochmal fliegen.

„Wenn du das Fliegen einmal erlebt hast, wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet. Denn dort bist du gewesen und dort wird es dich immer wieder hinziehen”, sagte Leonardo da Vinci. Er hatte recht.

(dpa)