Baarle-Hertog/Baarle-Nassau : Ein Stück Mittelalter: Baarles bizarrer Grenzverlauf
Baarle-Hertog/Baarle-Nassau Wer Grenzerfahrungen sucht, ist in Baarle richtig. In dem zwischen saftigen Wiesen und Weiden gelegenen Nest droht Besuchern der Orientierungsverlust.
Denn wohl an wenigen anderen Orten sind zwei Länder so verwoben wie hier, 50 Kilometer von Eindhoven entfernt, wo das belgische Baarle-Hertog und das niederländische Baarle-Nassau sich ineinander verschlingen.
22 belgische Enklaven sind kurz hinter der belgischen Grenze in niederländisches Staatsgebiet getupft. Doch damit nicht genug - es gibt noch Enklaven in der Enklave: Sieben niederländische Schnipsel sind von belgischem Grund umschlossen. „Wenn ich zehn Minuten durch das Dorf laufe, überquere ich die Grenze vielleicht 30 Mal”, meint der Bürgermeister von Baarle-Nassau, Vincent Braam.
Einheimische sagen, sie wüssten immer genau, in welchem Land sie gerade sind. Oder zumindest meistens. Fremde halten hingegen nach weißen Kreuzen auf dem Boden Ausschau. Die so markierten Landesgrenzen liegen wie ein Netz über dem Ort, ohne Rücksicht auf Straßenführung und Häuserbau. 1995 wurden letzte Unklarheiten beim Verlauf geklärt und die Grenzen markiert.
Nicht bei allen Bewohnern löste die plötzliche Klarheit Freude aus. Etwa bei der 85-jährigen Dame, die sich ihr ganzes Leben lang als Bürgerin Belgiens gefühlt hatte. Aber die Grenze verlief quer durch ihre Haustür und sie fand sich auf der falschen Seite wieder. „Sie war nicht einverstanden damit, dass sie Niederländerin werden sollte”, erzählt der ehemalige Bürgermeister Fons Cornelissen, inzwischen selbst ein betagter Ruheständler. Es fand sich eine Lösung: Der breite Türrahmen war zur Hälfte mit Glasfenstern gefüllt, die andere Hälfte machte die Tür aus. Die Bewohnerin ließ die beiden Seiten vertauschen, die Haustür stand nun in Belgien und damit blieb die Dame dort registriert.
Überhaupt stehen kreative Lösungen hoch im Kurs in den beiden Baarles. Lokalpolitiker sprechen viel von Kompromissen und rechtlichen Grauzonen. „Ich habe von meinen belgischen Partnern gelernt, dass man pragmatisch sein muss”, sagt Baarle-Nassaus Bürgermeister Braam. „Ich glaube nicht, dass sie in (den Regierungssitzen) Brüssel oder Den Haag ganz genau verstehen, wie das hier läuft.” Baarle-Hertogs Ex-Bürgermeister Cornelissen seufzt. Mit jedem Regierungswechsel gehe die Erklärarbeit von vorne los.
Schwierigkeiten habe es eine Weile mit der Müllabfuhr gegeben, berichtet Baarle-Hertogs amtierender Bürgermeister, der Belgier Frans De Bont. Der Abfall durfte damals nicht über Landesgrenzen transportiert werden. Heute gibt es zwei Müllabfuhren aber einen Abfallhof. Es gibt auch zwei Schulen, doch viele niederländische Eltern schicken ihre Kinder gern in die belgische Schule. Niederländisch spricht man ohnehin beidseits der Grenze, wenn auch in Belgien mit flämischem Dialekt.
Also verwischen die Zickzackgrenzen zwischen den beiden Baarles am Ende doch? Diese Möglichkeit weist man vor Ort entschieden zurück. „Je näher an der Grenze man lebt, desto wichtiger wird sie”, meint Jan Vervoort, Gemeindesekretär in Baarle-Hertog.
Schon die Unterschiede! „Die Niederlande sind viel professioneller”, räumt der belgische Altbürgermeister Cornelissen unumwunden ein. „Die Belgier sind eher Amateure, aber kreativ.” Niederländer Braam stimmt zu. „Die politische Kultur ist ganz unterschiedlich”, sagt er. „Wir verstehen einander nicht immer.” Abhilfe schaffen unter anderem gemeinsame Sitzungen beider Gemeinderäte und „viel Geduld”, wie Braam sagt. Politik in Baarle-Hertog mit seinen etwa 2250 Einwohnern und Baarle-Nassau mit ungefähr 6500 Bürgern klingt manchmal wie ein großer Stuhlkreis.
Auch in Fragen von Leben und Tod gibt es kein Entkommen vor der Grenzbürokratie. Etwa, als jüngst eine Frau ermordet wurde. „Als Erstes schaut man immer nach, wo genau der Körper liegt”, sagt Bürgermeister De Bont. Aber sonst ist der Dienstweg zwischen belgischen und niederländischen Ordnungshütern ausgesprochen kurz: Beide Wachen teilen sich Räumlichkeiten. Dass diese direkt auf der Grenze liegen, ist kein Zufall. Manchmal ist es aus Verfahrensgründen wichtig, dass bestimmte Dinge auf der richtigen Seite geschehen.
Im Ratssaal über der Wache markiert ein heller Lichtstreif im Boden den genauen Verlauf. Wenn es um Immobiliengeschäfte mit Häusern auf der Grenze geht, sind sowohl ein belgischer als auch ein niederländischer Notar nötig - jeder auf seiner Seite des Streifens.
Dieser Baarler Pragmatismus interessiert auch Politiker aus der Ferne. Man habe schon Delegationen aus Moldawien, Polen, China, Japan und Korea zu Besuch gehabt, berichten die Lokalpolitiker. Medienberichten zufolge interessiert sich auch Israels Premier Benjamin Netanjahu für die belgischen Enklaven und die Lehren, die sich vielleicht für israelische Siedlungen in den besetzten Gebieten ziehen ließen.
„Das kann man nicht vergleichen”, winkt Barle-Hertogs amtierender Bürgermeister De Bont ab. Es sei wie mit einer Hochzeit. Die könne auch nur als Bund unter Gleichen funktionieren. „Bei Israel und Palästina gibt es keine Gleichheit.” Seinen niederländischen Kollegen Braam empört der Gedanke geradezu. „Im Nahen Osten sprechen wir über einen Krieg”, betont er. „Wir haben hier Jahrhunderte lang sehr freundlich (miteinander) gearbeitet.”
Begründet ist der bizarre Grenzverlauf in Landschenkungen im Mittelalter. Bemerkenswert ist, dass die Irrungen und Wirrungen des Verlaufs bis heute erhalten blieben. 1843, als die offiziellen Grenzen zwischen den Niederlanden und Belgien festgezurrt wurden, ließ sich die Grenze im Gebiet von Baarle auf einer Strecke von 36 Kilometern nicht genau bestimmen. So jedenfalls erklärt es die örtliche Tourismusbehörde in einer Broschüre.
Stattdessen legte man die Nationalität von mehr als 5700 Einzelgrundstücken fest - die Entstehungsstunde der heutigen Enklaven. „Es ist die komplizierteste Enklaven-Situation der Welt”, meint Gemeindesekretär Vervoort. Er klingt dabei ausgesprochen stolz.