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Berlin: Viele Deutsche haben noch immer keinen Krankheitsschutz

Berlin : Viele Deutsche haben noch immer keinen Krankheitsschutz

Krankenversichert war die junge Frau noch nie. Wenn die 26-Jährige krank ist, geht sie in die Apotheke statt zum Arzt. Tabletten, Tropfen und Kühlpakete müssen es normalerweise richten. Nur diesmal ist das Ziehen und Pochen in den Zähnen zu stark.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht steht die Lettin in einem Flur in Berlin-Wilmersdorf. „Malteser Migranten Medizin” steht draußen an der Tür, doch es kommen längst nicht nur Menschen mit ausländischen Wurzeln hierher. Behandelt werden alle, die keine Krankenversicherung haben. Darauf sind auch viele Deutsche angewiesen - trotz der eingeführten Versicherungspflicht.

An diesem Morgen ist es ruhig in der Praxis. Normalerweise sitzen die Menschen im Wartezimmer dicht gedrängt. Im Schnitt kommen knapp 30 Leute an einem Vormittag zusammen, manchmal sind es mehr als 40. Von ihren deutschen Patienten hört Adelheid Franz immer wieder die gleichen Geschichten. Die meisten seien Selbstständige, erzählt die Allgemeinmedizinerin.

„Autokuriere, Fahrradkuriere, Subunternehmer am Bau, Putzfrauen oder Leute aus der Gastronomie”, zählt sie auf. Mehrere hundert Euro für die Krankenversicherung, wie sie Freiberufler zahlen müssen, haben diese Patienten nicht übrig - Miete und Essen gehen vor.

Viele Patienten kommen erst zu Franz, wenn es schon fast zu spät ist. „Gerade die Selbstständigen arbeiten immer, bis sie umfallen”, sagt die Ärztin. Ein Husten wird bis zur Lungenentzündung verschleppt, Karies bis zum verfaulten Gebiss. „Auch dass Schwangere erst zum Geburtstermin kommen, haben wir ganz oft”, sagt sie.

Menschen, denen das Leben über den Kopf wächst, hat Franz in den vergangenen Jahren viele gesehen. Sie leitet die „Malteser Migranten Medizin” seit der Gründung 2001. Finanziert wird die Einrichtung durch Spenden. Im ersten Jahr kamen 215 Patienten, im vergangenen Jahr waren es mehr als 3000.

Mittlerweile ist die Praxis an drei Tagen in der Woche geöffnet und eine Frauenärztin kommt einmal wöchentlich zur Unterstützung. Ansonsten versorgt Franz alle Patienten allein.

Die meisten von ihnen haben keine Aufenthaltsgenehmigung und deshalb keine Versichertenkarte. Knapp zehn Prozent der Patienten sind aber Deutsche. Nach der Einführung der Gesundheitsreform im April 2007 sei die Zahl zwar leicht gesunken, erzählt Franz.

Die Probleme der Selbstständigen seien aber nach wie vor nicht gelöst. Mit der Reform kam eine Versicherungspflicht - zunächst nur bei den gesetzlichen Kassen, die Privaten folgen später. Die Kassen müssen seitdem ehemalige Versicherte wieder aufnehmen. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums wurde das Angebot bislang dankend aufgenommen.

Mindestens 132.000 Menschen seien mittlerweile in die Versicherung zurückgekehrt, sagt Behördensprecher Andreas Deffner. Genaue Zahlen gebe es nicht. Mehrere zehntausend Menschen sind Schätzungen zufolge aber noch immer ohne Versicherungsschutz.

Das Dilemma ist dem Gesundheitsministerium bewusst. Für Selbstständige liege der reguläre Mindestbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung bei rund 500 Euro, rechnet Deffner vor. Selbst wer kaum etwas oder nichts verdiene, müsse mindestens 260 Euro zahlen. „Vielen Selbstständigen ist das in der Startphase zu teuer”, sagt er. Deffner hält es trotzdem für einen „Denkfehler”, den Versicherungsschutz nicht an die erste Stelle zu setzen - noch vor dem Dach über dem Kopf.

Die junge Lettin kann solche Aussagen nur belächeln. Seit 2006 lebt sie in Deutschland. Einen Job hat sie nicht. Die paar hundert Euro, die ihr Freund vom Jobcenter bekommt, müssen auch für sie und ihren kleinen Sohn reichen. Der 14 Monate alte Junge ist über den Vater versichert. „Gottseidank”, sagt die 26-Jährige.

Seit der Ost-Erweiterung der Europäischen Union kommen immer mehr Menschen wie sie in die Malteser-Einrichtung. Eine Aufenthaltsgenehmigung haben die neuen EU-Bürger durch den Beitritt zwar, aber krankenversichert sind viele trotzdem nicht. Angestellt dürfen sie derzeit nur arbeiten, wenn kein geeigneter deutscher Bewerber zu finden ist. Und als Selbstständige haben sie ähnliche Probleme wie deutsche Freiberufler mit geringem Einkommen.

Noch dazu hätten viele osteuropäische Einwanderer Vorerkrankungen, sagt Franz. Viele kommen mit Hepatitis oder anderen Infektionskrankheiten zu ihr. Damit hätten sie bei vielen Versicherern keine Chance, aufgenommen zu werden, sagt sie. Mittlerweile kommt ein Fünftel ihrer Patienten aus Osteuropa. „Das ist ein massives Problem”, sagt Franz. Der Andrang in der Praxis wird immer größer. Auf volle Bänke im Wartezimmer ist Verlass, auf die Eingänge auf dem Spendenkonto dagegen nicht.