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Greifswald/Mainz: Blind für Emotionen: Gefühle lassen sich lernen

Greifswald/Mainz : Blind für Emotionen: Gefühle lassen sich lernen

Ein liebevoller Geburtstagsgruß lässt den Beschenkten strahlen. Bei der Trennung von einer geliebten Person schießen einem Tränen in die Augen. Solche Gefühlsregungen sind für viele selbstverständlich.

Manche Menschen jedoch nehmen ihre eigenen Gefühle nur als diffuse Spannungs- oder Erregungszustände wahr und können sie weder bewusst verarbeiten noch benennen. Umgangssprachlich heißt dieses Phänomen „Gefühlsblindheit”, Psychologen sprechen von Alexithymie.

„Nach einer sehr fundierten Düsseldorfer Studie aus dem Jahr 2008 sind zehn Prozent der Allgemeinbevölkerung alexithym”, erklärt Hans-Jörgen Grabe, stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Greifswald. Zahlreiche Untersuchungen in Skandinavien weisen auf eine noch deutlich stärkere Verbreitung hin.

Alexithymie wird nicht als Krankheit, sondern als Persönlichkeitsmerkmal eingestuft: „Der Bereich des Gehirns, der für die bewusste Affektwahrnehmung und -steuerung zuständig ist, ist vermindert aktiv”, sagt Grabe. Für Außenstehende wirken alexithyme Personen kühl, nüchtern und distanziert.

Was in manch einer beruflichen Situation hilfreich sein mag, kann an anderer Stelle zum Problem werden. „Starke Alexithymie behindert die Betroffenen dabei, sich über die eigenen Gefühle klar zu werden, im Kontakt mit anderen und bei Austragen von Konflikten”, erläutert Claudia Subic-Wrana, Psychotherapeutin in der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uni Mainz.

Im nahen sozialen Umfeld, aber auch in anderen Bereichen, wo Kommunikation gefordert wird, sind Reibungen programmiert. Auf Überlastungen, etwa in Extremsituationen wie einer Scheidung, oder einen Konflikt am Arbeitsplatz reagiert der Betroffene dann meist mit sogenannten Sekundärerkrankungen wie Magen-Darm-Beschwerden oder Schlafstörungen.

Die Krux ist: „Viele Betroffene wissen gar nicht, dass sie alexithym sind: Was man nicht kennt, erlebt man auch nicht als fehlend”, sagt Subic-Wrana. So melden sich in ihrer Klinik zunächst oft die Angehörigen - vorrangig Partner, die sich unverstanden fühlen oder über emotionale Kälte klagen.

„Der Betroffene selbst entwickelt einen Leidensdruck erst, wenn sekundäre Krankheitssymptome auftreten”, ergänzt Grabe. Zur Diagnose werden klinische Interviews und Fragebögen verwendet. Dabei kommen auch Fremdbeobachtungen wie Fragebögen für Angehörige zum Einsatz. Bildgebungsverfahren, die die Hirnaktivität sichtbar machen, können laut Grebe derzeit nur im Gruppenvergleich Aussagen liefern.

Prinzipiell ist eine Behandlung möglich. „Der Prozess des emotionalen Lernens lässt sich im Rahmen einer Therapie nachholen”, bestätigt Subic-Wrana. Nur: Wie findet man einen geeigneten Therapeuten? Neben den Unikliniken in Greifswald und Mainz gibt es in vielen anderen Kliniken Experten zu diesem Thema. Doch Patienten mit psychosomatischen Beschwerden suchen in der Regel zuerst einen niedergelassenen Therapeuten auf.

Dort jedoch gibt es wenige Spezialisten. So hat der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen kein Mitglied mit dem Arbeitsgebiet Alexithymie und nur zwei mit dem Schwerpunkt Gefühlsstörungen gelistet. „Das mag auch daran liegen, dass alexithyme Personen für den Therapeuten eine große Herausforderung sind: Er findet oft nur sehr schwer einen Zugang zu ihnen”, erklärt Dieter Adler, Psychologischer Psychotherapeut in Bonn.

Hilfreich kann eine Nachfrage nach den angebotenen Therapieformen sein. „Tatsächlich ist ein klassisches psychoanalytisches oder psychodynamisches Setting bei der Therapie weniger geeignet”, warnt Grabe. „Viel bessere Erfolge werden mit erlebnisorientierten Verfahren wie kommunikativer Bewegungstherapie, aber auch mit Gruppentherapien und der gezielten Ansprache emotionaler Ebenen sowie mit Expositionstherapie erzielt.”

Vor allem bei stark ausgeprägter Alexithymie kann eine stationäre Behandlung gefolgt von einer ambulanten Therapie sinnvoll sein. Liegen depressive Störungen vor, werden diese meist ergänzend medikamentös behandelt. In jedem Fall braucht der Betroffene die Unterstützung von Angehörigen - in integrierten Gesprächen in der Therapie und im Alltag.

„Ein Partner muss sich bewusst sein: Eine alexithyme Person kann ihm nicht jeden Wunsch von den Lippen ablesen, auch wenn sich die beiden noch so lange kennen”, sagt Grabe. Natürlich könne man zum gegenseitigen Verständnis beitragen, in dem man seine Gefühle verbalisiert und erklärt, „also wie eine Fremdsprache übersetzt”. Das ist allerdings sehr anstrengend für beide - und macht Spontanität nahezu unmöglich.

Ursachen in der frühen Kindheit

Ein wichtiges Ergebnis der entwicklungspsychologischen Baby- und Säuglingsforschung ist der Psychotherapeutin Claudia Subic-Wrana zufolge, dass Emotionswahrnehmung gelernt wird, indem ein Kleinstkind beobachtet, wie andere Personen - etwa die Mutter - seine Emotionen wahrnehmen und vielleicht sogar in Worte fassen.

Das Kind verknüpft in diesem Prozess seinen inneren Zustand mit einer bestimmten Emotionskategorie. Hat ein Kind kein solches Modell, dann ist der Lernprozess gestört. Das kann der Fall sein, wenn die Mutter psychisch krank, stark belastet oder emotional nicht präsent ist. Eine andere stabilisierende Bezugsperson, etwa der Vater, kann die Modellfunktion aber übernehmen.