Vergeletto : Der gute Mann vom Onsernone-Tal: Zu Gast bei einem Farina-Bona-Müller
Vergeletto Plötzlich riecht es nach Popcorn. Aber weit und breit ist kein Kino und kein Jahrmarkt zu sehen. Nur steile, baumbestandene Berghänge, an denen graue Steinhäuser emporragen. Einige haben ein Mühlrad an einer Seite, das von herabstürzendem Wasser angetrieben werden könnte. Der Popcorn-Duft führt in ein Gebäude, das gegenüber einer der Mühlen liegt. Drinnen im Erdgeschoss lärmt eine Maschine so laut, dass Ilario Garbani sich kaum verständlich machen kann. Neben ihm stehen Säcke mit geröstetem und ungeröstetem Mais, die Grundlage für „Farina Bona”.
Das „gute Mehl”, so die Übersetzung, stammt traditionell aus dem unwegsamen Onsernone-Tal im Schweizer Kanton Tessin. Es ist eines der größten Waldreservate des Landes, unweit des Lago Maggiore und der mondänen Orte Locarno und Ascona - und eine ganz andere Welt: mit Häusern, die sich an den Berghang schmiegen, kleinen Hütten mit Dächern aus Granit und Gneis, und Straßen, die manchmal so eng sind, dass keine zwei Autos aneinander vorbei kommen. Ins Dorf Vergeletto zu Garbanis Farina-Bona-Produktion gelangt man über eine schmale Route, die entlang des Flusses Ribo nach Norden führt.
„Früher hat man den Mais in einer Pfanne geröstet”, erklärt Garbani über den Lärm der Maschine hinweg. „Heute benutze ich eine Maschine, in der anderswo Kaffeebohnen geröstet werden.” In der Trommel im Inneren rotieren die noch gelben Maiskörner. Für gut sieben Minuten werden sie bei etwa 200 Grad geröstet, und zwar so, dass nicht alle zu Popcorn aufplatzen. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war es Roggen, der durch derartiges Rösten konserviert wurde.
Als Garbani eine Klappe im oberen Teil seiner Maschine öffnet, sausen die Körner mit lautem Zischen und Knacken in eine große Auffangschale aus Metall. Ein großer elektrischer Quirl rührt sie durch, um sie rasch abzukühlen. Zu Mehl werden sie später in der einzigen wieder aktiven Mühle im Tal. Garbani und seine Helfer erzeugen dort nur vier Tonnen Farina Bona im Jahr, obwohl die Nachfrage viel größer ist. Die Schweizer Supermarktketten Coop und Migros etwa setzen zunehmend auf solche schonend und traditionell produzierten Regionalprodukte.
Früher war mit Milch, Wasser oder Wein vermischte Farina Bona für die Menschen im Tal das täglich Brot. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zuge veränderter Essgewohnheiten, verlor es an Bedeutung, Ende der 1960er Jahre machte die letzte Mühle dicht. Zu neuer Blüte gekommen ist Farina Bona dank des Engagements von Garbani und seinen Mitstreitern in der Genießervereinigung Slow Food, die sich dem Erhalt regionaler Esskultur verschrieben hat. „Farina Bona soll zur Wiederbelebung des Tals beitragen”, sagt Garbani. Derzeit leben dort nur noch 600 bis 700 Menschen, viele von ihnen Bergbauern, die jetzt auch auf sanften Tourimus setzen. Andere Arbeit gibt es kaum.
Verwendet wird das gute Mehl heutzutage als Zutat zum Beispiel für Biscotti, Grissini, Pasta oder einen Brotaufstrich namens Bonella. „Auch für Bier kann man es nehmen”, sagt Garbani, der sich die mühsame Arbeit nur leisten kann, weil er im Hauptberuf Lehrer ist.
Früher gab es 40 Mühlen in Vergeletto und Umgebung, heute noch fünf, vier davon sind Schaumühlen. Das Leben hier war immer hart, die Region gehört zu den ärmsten im Tessin. Auch wegen der Geografie: Das Onsernone-Tal verläuft in ost-westlicher Richtung nach einem steilen Einstieg am Fluss Isorno entlang. Wer von Locarno oder Ascona kommt, erreicht nach 25 Kilometern als letztes Dorf Spruga auf etwa 1100 Metern Höhe. Danach geht es nur noch zu Fuß weiter, und nach wenigen Kilometern ist man an der italienische Grenze. Manche Menschen sagen, das Onsernone-Tal sei die schönste Sackgasse der Schweiz.