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Aachen/Gaziantep: Wahlkampf in der Türkei: Flüchtlinge sind ein großes Thema

Aachen/Gaziantep : Wahlkampf in der Türkei: Flüchtlinge sind ein großes Thema

Seit 2011 der Krieg in Syrien ausgebrochen ist, hat die Türkei aus dem Nachbarland 3,5 Millionen Menschen aufgenommen. Kein Land hat mehr Syrern Zuflucht geboten. Doch die anfängliche Willkommenskultur stößt längst an ihre Grenzen. „Die Stimmung ist schon vor einiger Zeit gekippt“, sagt Christoph Laufens, Programmkoordinator der Welthungerhilfe, die heute ihre Jahreszahlen vorstellt, in der Türkei.

 Sein Büro liegt in Gaziantep, direkt an der Grenze zu Syrien. Von dort aus kümmert er sich nicht nur um Einsätze in der Türkei, sondern auch in Syrien und dem Libanon. Mit dem 40-jährigen Juristen aus Haaren bei Heinsberg sprach Christina Merkelbach.

 Am 24. Juni werden in der Türkei Präsident und Parlament gewählt. Welche Rolle spielen die syrischen Flüchtlinge im Wahlkampf, der sich gerade im Endspurt befindet?

 Christoph Laufens: Einige Parteien versprechen im Falle ihres Sieges dafür zu sorgen, dass die syrischen Flüchtlinge die Türkei verlassen und wieder zurück in ihre Heimat müssen. Ihnen soll dann in Syrien geholfen werden, heißt es.

 Wie kommt das bei den Wählern an?

 Laufens: Bei vielen trifft es einen Nerv. Denn generell lässt die Aufnahmebereitschaft nach inzwischen sieben Jahren Syrienkrieg in der Bevölkerung nach.

 Warum ist die Stimmung umgeschlagen?

 Laufens: Dafür gibt es mehrere Gründe. Außer in Istanbul und Ankara leben die meisten der 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Grenzgebiet. Also in den Provinzen, die nahe an Syrien liegen. Gerade diese Gebiete sind aber ökonomisch in einer schwierigen Situation, die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem unter Jugendlichen. Die Menschen verdienen ohnehin nicht viel Geld, und dann ist jede zusätzliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schlecht.

 Und wenn sich die Zahl der Bewohner durch den Zuzug der Geflüchteten auf über 200 000 Menschen verdoppelt, wie etwa in Kilis in Südostanatolien, stoßen auch die Sozialbehörden an ihre Grenzen. Geflüchtete Familien in das bestehende System zu integrieren, ist in solchen Städten besonders schwierig. Auch der Wohnungsmarkt ist extrem angespannt.

 Können syrische Flüchtlinge denn in der Türkei so ohne weiteres arbeiten?

 Laufens: Nein, außer es handelt sich um landwirtschaftliche Arbeit. Andernfalls brauchen sie eine Arbeitserlaubnis, die einen hohen administrativen Aufwand erfordert und in vielen Fällen nicht erteilt wird. Trotzdem bieten die Geflüchteten ihre Arbeitskraft an und arbeiten illegal. Dabei handelt es sich in der Regel um Jobs im Niedriglohnsektor und dort konkurrieren sie mit Einheimischen.

 Es gibt aber auch Gegenbeispiele, oder? Ende vergangenen Jahres meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass Migranten aus Syrien in Gaziantep über 1000 neue Unternehmen gegründet hätten.

 Laufens: Die Syrer waren in Gaziantep immer gut vertreten, weil die Stadt mit Aleppo einen regen Handel betrieben hat. Ich gehe aber davon aus, dass die meisten dieser 1000 Gründungen Kleinstunternehmen sind, also etwa eine Schneiderin oder ein Friseur. Sie werden nicht unbedingt als diejenigen gesehen, die perspektivisch Arbeitsplätze schaffen, was der Bevölkerung zugute kommen würde.

 Gibt es noch weitere Gründe für die feindselige Stimmung?

 Laufens: Es besteht die Gefahr, dass die Syrer für alle möglichen Missstände im Lande verantwortlich gemacht werden. Dass die Türkei wirtschaftlich gerade nicht besonders gut dasteht, befeuert das Ganze noch einmal. Brüche im sozialen Zusammenhalt gibt es aber auch, seit die Türkei im Januar dieses Jahres ihre Militäroffensive im nordsyrischen Afrin gestartet hat. Es werden Syrer auf offener Straße angegangen, warum sie denn in der Türkei ein sicheres Leben führen, während türkische Soldaten in Syrien ihr Leben riskieren.

 Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Flüchtlingsabkommen, das EU und Türkei im März 2016 geschlossen haben?

 Laufens: Nach meinem Eindruck ist dieses Abkommen kein großes Thema in der Bevölkerung, dafür ist es vielleicht auch zu spezifisch. Hin und wieder kritisieren Politiker, dass die EU noch nicht alle zugesagten Hilfsgelder ausgezahlt hat. Das liegt aber auch daran, dass einige Projekte, die von diesen Geldern finanziert werden, verzögert begonnen haben. Wobei ich der türkischen Seite auch ein Lob aussprechen möchte: Der Aufwand, den das Land betreibt, ist wirklich immens, gerade mit Blick auf die hohe Zahl der Geflüchteten. Das wird auf EU-Seite oft vergessen.

 Was meinen Sie konkret?

 Laufens: Alle Geflüchteten, die registriert werden, haben unter anderem kostenlosen Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung. Natürlich belastet das eine Volkswirtschaft. Deshalb haben die Türken durchaus recht, wenn sie sagen: Einige von den Versprechen an uns hat die EU immer noch nicht umgesetzt. Dann wollen wir zumindest, dass die zugesagten drei Milliarden Euro ausgezahlt werden.

 Unter welchen Bedingungen leben die syrischen Flüchtlinge in der Türkei?

 Laufens: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt eine Menge Menschen, die nicht registriert sind und unter sehr schlechten Bedingungen leben, also unter Plastikplanen oder in irgendwelchen zerstörten Häusern ohne Fenster und Türen. Der Großteil ist aber registriert. Rund 1,3 Millionen Syrer erhalten Hilfe über ein Programm, das die Türkei mit Hilfe der EU umsetzt. Sie bekommen eine Geldkarte, die monatlich mit einem Betrag aufgeladen wird, der der Höhe der türkischen Sozialhilfe entspricht. Es gibt aber auch noch viele Flüchtlinge, die diese Hilfe noch nicht in Anspruch nehmen können, weil sie etwa die Anträge nicht ausfüllen können oder ihre Rechte nicht kennen. Dabei hilft unter anderem die Welthungerhilfe und klärt die Syrer über ihre Rechte auf.

 Versorgen Sie die Flüchtlinge auch mit Lebensmitteln?

 Laufens: In der Türkei ist das nicht notwendig, denn die Märkte sind intakt, hier helfen wir eher mit Projekten zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts oder mit Maßnahmen, den Geflüchteten Einkommensmöglichkeiten zu eröffnen. Lebensmittel und Medikamente liefern wir zu den Menschen in den syrischen Kriegsgebieten, wo die Infrastruktur zusammengebrochen ist. Vor allem die Zivilbevölkerung leidet. Hunger wird gezielt als Waffe eingesetzt.