Unicef ruft zu Spenden für Afghanistan auf : Einer Million Kindern droht der Hungertod
Aachen/Kabul Das UN-Kinderhilfswerk schlägt Alarm. Millionen Kinder in Afghanistan sind akut mangelernährt. Ihre einzige Rettung: Lebensmittelspenden und medizinische Betreuung. Christian Schneider, Unicef-Geschäftsführer in Deutschland, berichtet von der Lage am Hindukusch.
Die Wirtschaft ist faktisch zusammengebrochen. Das Gesundheitssystem funktioniert nur notdürftig, die Zahl der unterernährten Kinder wächst dramatisch. Als Geschäftsführer von Unicef Deutschland wird Christian Schneider tagtäglich mit dem Schicksal notleidender Mädchen und Jungen in aller Welt konfrontiert. Doch angesichts der Situation in Afghanistan fällt es auch ihm schwer, das Ausmaß der Tragödie zu beschreiben, die sich in diesem harten Winter am Hindukusch ereignet. „Ich bin wirklich nicht schnell bei dieser Wortwahl. Doch in Afghanistan haben wir jetzt das, was man eine humanitäre Katastrophe nennen muss“, sagt Schneider im Gespräch mit unserer Zeitung.
Nach Einschätzung von Unicef sind derzeit mehr als eine Million Kinder im Land schwer mangelernährt. Ohne Nahrungshilfen, Winterkleidung und medizinische Betreuung drohe ihnen der Tod. Insgesamt benötigen 13 Millionen Kinder humanitäre Hilfe und kämpfen mit Hunger und gegen Kälte. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat schon vor Wochen einen der größten humanitären Hilfsaufrufe seit seiner Gründung vor 75 Jahren gestartet. Zwei Milliarden US-Dollar seien nötig, um die Kinder in Afghanistan zu retten, lautet der Appell an die internationale Staatengemeinschaft. 204 Millionen US-Dollar davon beträfen den Bereich Ernährung, weitere 334 Millionen US-Dollar nötige Gesundheitsmaßnahmen.
„Viele Kinder brauchen dringend eine stationäre Behandlung“, sagt Schneider. Gerade erst ist der Unicef-Chef zurückgekehrt von einer Reise in diverse Provinzen des Landes, wo er die Verteilung von Hilfspaketen gegen die Winterkälte verfolgt hat. Die Eindrücke sind noch frisch, die Bestürzung ist groß.
In der Hauptstadt Kabul, in Gardez und in Zurmat führte Schneiders Weg in die Krankenhäuser, wo schwer mangelernährte Kinder und Frühgeborene um ihr Leben kämpfen. „Von überall her kommen Mütter, Väter und auch Geschwister mit sehr geschwächten Kleinkindern. Die wenigen Plätze auf den Stationen sind überfüllt. Ich habe unfasslich viele Menschen erlebt, die für Medikamente anstanden“, berichtet Schneider. Wenn er und seine Kollegen mit Müttern ins Gespräch gekommen seien und sie nach ihrer letzten Mahlzeit gefragt hätten, sei die Antwort immer ausweichend gewesen – etwas Brot, vielleicht ein bisschen Reis oder ein paar Kartoffeln. „Wenn die afghanischen Kollegen noch einmal nachfragten, war es oft so, dass die Mütter lediglich Tee getrunken und den Kindern das letzte Brot zum Essen gegeben haben“, weiß der Unicef-Chef.
Die Familien stünden Tag für Tag vor der Entscheidung: Soll ich mit meinen wenigen Afghani noch etwas Feuerholz kaufen, um die Wohnung zu wärmen, oder soll ich das Geld in ein paar Stücke Brot investieren? Dem Welternährungsprogramm zufolge haben aktuell mindestens 14 Millionen der insgesamt 30 Millionen Afghanen nur eine warme Mahlzeit am Tag.
Seit der Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban im Sommer 2021 hat sich die Lage noch einmal verschärft. Schneider betont aber auch: „Man muss das Bild facettenreicher zeichnen.“ Man erlebe gerade eine Generation von Kindern, deren Familien vier Jahrzehnte Krieg erlebt hätten. „Zu den Ungewissheiten im Zusammenhang mit dem Machtwechsel kam noch eine furchtbare Dürre und eine Wirtschaftskrise. Vor allem auf dem Land berichteten uns Frauen, dass die halbe Ernte weggebrochen ist“, sagt der Geschäftsführer des Hilfswerks in Deutschland. Zu dem wirtschaftlichen Niedergang kommen stark steigende Lebensmittelpreise. „All diese verschiedenen Faktoren muss man zusammen betrachten, um die katastrophale Situation der Bevölkerung zu verstehen“, so Schneider.
Weil die Taliban-Regierung international nicht anerkannt wird, sind die Währungsreserven der alten Regierung eingefroren, Hilfsgelder fließen nur spärlich. „Wir müssen die politische Situation und die Menschenrechtsfragen trennen von der Antwort auf die humanitäre Katastrophe, die wir dort erleben“, sagt der Unicef-Geschäftsführer und meint: „Das Staatswesen liegt völlig darnieder, und die Versorgung der Bevölkerung war schon vor dem Machtwechsel nur möglich, weil sie zu 70 Prozent international finanziert wurde. Es wäre fatal, wenn wir der Bevölkerung in dieser wirklich bedrohlichen Notsituation nun den Rücken kehren und sagen, wir können keine humanitäre Hilfe leisten.“
Dass die Hilfe im Land auch ankommt, daran lässt Schneider keinen Zweifel. „Unicef ist seit 70 Jahren in Afghanistan tätig, und wir haben schon vor dem Machtwechsel in Gebieten gearbeitet, die von den De-facto-Machthabern kontrolliert wurden. Sie wussten, dass Unicef konkrete Hilfe leistet in den Dörfern und sich um Ernährung, Wasser- und natürlich Bildungsprojekte kümmert.“ Das kommt den rund 400 Unicef-Mitarbeitern vor Ort nun zugute. Die Radikal-Islamisten unterstützten die Arbeit der Helfer. „Wir können in Abstimmung mit den De-facto-Machthabern die Zahl unserer mobilen Gesundheitsteams vergrößern, um Kinder gegen Polio und andere Krankheiten zu impfen. Wir haben zudem weit über 100 mobile Ernährungsteams im Einsatz. Unsere Mitarbeiter können jetzt auch Orte erreichen, die vor dem Sommer noch umkämpft waren“, sagt Schneider.
Auch im Bereich Bildung gibt es nach Einschätzung des Unicef-Geschäftsführers Anlass zur Hoffnung. Die Taliban erlaubten zumindest Mädchen bis zum Alter von zwölf Jahren den Schulbesuch. „Infolge der Pandemie und der zurückliegenden Unruhen fehlen im staatlichen Bildungssystem Plätze, aber mit unseren informellen Bildungsangeboten erreichen wir derzeit mehrere 100.000 Kinder, darunter auch viele Mädchen.“ Beeindruckt habe ihn der Besuch einer Schule, wo 20 Mädchen in einem kalten Klassenraum mit einem einfachen Ofen zusammensaßen. Von Unicef kommen Heiz- und Lernmaterial. „Dann erleben wir, wie diese Mädchen in dieser eigentlich lebensbedrohlichen Notsituation weiter lernen wollen. Und wir sehen, dass die Eltern, die Lehrer, aber auch die Gemeinde das Projekt mit Wohlwollen sehen.“ Unicef werde auch das öffentliche Bildungswesen unterstützen, um diese Tür für Mädchen weiter aufzumachen.
Derzeit liegt der Fokus aber vor allem darauf, die Menschen durch den Winter zu bringen. An Kinder werden dicke Jacken, Hosen und Stiefel gegen die Kälte verteilt. Therapeutische Nahrung wie Erdnusspaste lindert den Hunger jener Kinder, für die auf den überfüllten Stationen der Krankenhäuser kein Platz ist und die zu Hause zu Kräften kommen können.
Seit dem Spätherbst hat Unicef zudem die Möglichkeit, von der Weltbank wieder freigegebene Gelder einzusetzen, um etwa ausstehende Löhne des Gesundheitspersonals auszuzahlen. Unicef leistet zudem mit kleinen Bargeldzahlungen Direkthilfe. Ein umfangreiches Register stellt sicher, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie auch benötigt wird. Schneider: „Es macht auch etwas mit der Würde der Menschen, wenn sie selbst mit ein wenig Geld Lebensmittel kaufen können und nicht auf Spenden angewiesen sind.“
Wenn auch Sie den Kindern in Afghanistan helfen wollen:
Bank für Sozialwirtschaft Köln
IBAN DE57 3702 0500 0000 3000 00
BIC BFSWDE33XXX
Spendenzweck: Afghanistan Nothilfe