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Aachen: Schuldenkrise: Komplexes Thema, das starke Emotionen auslöst

Aachen : Schuldenkrise: Komplexes Thema, das starke Emotionen auslöst

Es gibt derzeit kein Thema, das größere Aufmerksamkeit erfährt als die griechische Schuldenkrise. Zeitungen, TV-Nachrichten und Polit-Talkshows behandeln das Thema in ganzer Breite. Und auch im Internet ist es derzeit das beherrschende Thema.

Mit vielen Emotionen werden dort Grexit, Schuldenschnitt und Syriza diskutiert. Vor allem in sozialen Netzwerken geht es dabei zwischen Unterstützern der griechischen Regierung und Grexit-Sympathisanten mitunter drunter und drüber. Wieso das so ist, hat der Duisburger Politikwissenschaftler Christoph Bieber unserem Redakteur Amien Idries erklärt.

„Meine Familie hat demokratisch abgestimmt: Der Hauskredit wird nicht zurückgezahlt. Ein Sieg des Volkswillens!“, schrieb der Kabarettist Dieter Nuhr am Tag des griechischen Referendums auf Twitter und löste damit einen Shitstorm, also einen Sturm der Entrüstung im Internet, aus. Warum entfacht dieses komplexe Thema so starke Emotionen?

Bieber: Von einem Shitstorm würde ich im Fall Nuhr nicht sprechen. Sein Tweet hat zwar Ablehnung erfahren, es gab aber auch zustimmende Kommentare. Von daher wäre es wohl eher eine Mischung aus Shit- und Candystorm. Abgesehen davon, fehlt ein weiteres Charakteristikum für einen Shitstorm, weil es noch keinen Hashtag, also eine Verschlagwortung, zu dem Ereignis gibt. Dass der Vorfall von manchen traditionellen Medien aufgenommen wurde, hat wohl eher mit Nuhrs Prominenz zu tun. Für einen Auftritt in einer politischen Talkshow hat er sich mit dem Beitrag jedenfalls nicht qualifiziert. Wir wollen nicht hoffen, dass die Talkshowkultur in Deutschland so weit gesunken ist, dass man das als politischen Debattenbeitrag definiert.

Dennoch hat der Beitrag starke Emotionen ausgelöst. Warum?

Bieber: Das Thema Griechenland wirkt trotz seiner Komplexität weit über die Fachkreise hinaus, weil in der öffentlichen Debatte sehr häufig mit Begriffen wie Schuld und Moral operiert wird. Dadurch ist das Thema sehr gut geeignet für eine Diskussion, die auch ohne viel Hintergrundwissen bestritten werden kann. Diese starke Vereinfachung wurde durch das Referendum noch einmal zugespitzt: Ja oder Nein? Wer ist dafür, wer ist dagegen? Das war dann der Ausgangspunkt für emotionale Streitkaskaden im Internet.

Ich bin also förmlich gezwungen, mich zu positionieren.

Bieber: Nein, gezwungen bin ich nicht. Die Struktur von Facebook und Twitter befördert aber eine solche Positionierung. Es gibt im Netz ja durchaus auch sehr kluge und differenzierte Beiträge zu dem Thema. Das sind aber nicht die reichweitenstarken Formate und auch nicht unbedingt die Formate, die von den etablierten Medien gerne aufgegriffen werden.

Traditionelle Medien verstärken eher das Krawallige aus dem Netz?

Bieber: Sie verstärken es nicht nur, sondern lösen es mitunter auch aus. Es gibt offline starke Meinungsmacher, die auch im Netz polarisieren. Dabei wird gerne übersehen, dass die Debatten nicht nach Medien getrennt verlaufen, sondern crossmedial miteinander verwoben sind. Für die mangelnde Qualität der Debatte ist also nicht allein das Internet verantwortlich. Da spielen die etablierten Medien auch eine gewisse Rolle.

Dennoch werden die Inhalte im Netz anders verarbeitet.

Bieber: Natürlich. Ich kann unmittelbar reagieren, in dem ich kommentiere oder über die sozialen Netzwerke teile. Solche Reaktionen gibt es natürlich verstärkt auf die polemischen, polarisierenden Beiträge. Damit ist ihre Verbreitung in den sozialen Netzwerken automatisch größer. Ich bekomme einen bestimmten Artikel — etwa den Tweet von Dieter Nuhr — nicht einmal, sondern zehn Mal in meine Timeline gespült, weil mein Facebook-Freundeskreis ihn liked oder teilt. Dadurch schreibe ich ihm, wenn auch nur unbewusst, eine größere Relevanz zu als einem differenzierten Artikel, den vielleicht nur einer meiner Freunde teilt. Das hat einen verzerrenden Effekt.

Dem Internet wurde von vielen Menschen eine Aufklärungsrolle zugeschrieben, weil es herrschaftsfreie Information ermöglicht. War dieser Glaube naiv?

Bieber: Herrschaftsfrei ist das Internet immer weniger. Vielmehr pflanzen sich im Internet Machtstrukturen aus der realen Welt fort. Für den publizistischen Bereich bedeutet das, dass es auch im Netz starke Meinungsmacher gibt, die Informationen aufbereiten und für den User strukturieren. Da sind neue Akteure wie etwa Blogger hinzugekommen, aber die traditionellen Medien sind weiterhin einflussreiche Spieler auf diesem Feld.

Sie haben zu den Rückkopplungen zwischen Netz und Politik geforscht. Sitzt da nun der Kanzleramtsminister und eruiert via Facebook die Stimmung der Bürger zu Griechenland?

Bieber: Er selbst wird das vermutlich nicht machen, aber Mitarbeiter nehmen diese Kanäle natürlich wahr. Wobei Twitter eine größere Rolle spielt, obwohl es nicht so reichweitenstark ist. Der Kurznachrichtendienst hat sich in Deutschland zu einer Art Branchendienst für Medien, Politik und Netzaktivisten entwickelt. Er wird von der Politik durchaus als Seismograph für politische Stimmungen genutzt. Spätestens, wenn sich Hashtags bilden, ist das ein Hinweis darauf, dass es ein virulentes Thema gibt. Spezialisierte, darüber hinausgehende Analysewerkzeuge werden meines Wissens in Deutschland noch nicht eingesetzt. In den USA hingegen existieren schon Tools, die genutzt werden, um Facebook und Twitter systematisch zu beobachten.

Facebook und Twitter sind junge Kanäle. Sind auch ihre Nutzer tendenziell jünger, so dass die dort geäußerten politischen Meinungen nicht repräsentativ sind?

Bieber: Dazu kenne ich zu wenige Daten, deshalb wäre ich mit einer solchen Vermutung vorsichtig. Ich denke vielmehr, dass Facebook nicht per se zu einer liberaleren oder jüngeren Meinung tendiert und somit die Realität verzerrt. Der viel wichtigere Verzerrungseffekt ist die individuelle Zusammenstellung meiner Facebook-Kontakte. Sind das Menschen, die weitestgehend meine Meinung widerspiegeln? Oder gibt es dort auch Menschen mit anderem politischen Hintergrund, so dass ich Meinungen importiere, die ich ansonsten nicht wahrnehmen würde?

Man könnte die emotionale Debatte um Griechenland auch positiv sehen und von einer Repolitisierung der Gesellschaft sprechen.

Bieber: Die Aktivitäten auf Facebook sind stark emotional getrieben und nicht unbedingt politisch. Das war etwa nach der Entscheidung zur gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA anders. Da hatten viele Facebook-User ihr Profilbild in Regenbogenfarben gefärbt. Diese Form der dauerhafteren symbolischen Unterstützung gibt es beim Thema Griechenland deutlich weniger. Viele sind nicht gewillt oder nicht in der Lage, sich mit dem nötigen Hintergrundwissen auszustatten, um das Thema dann substanziell politisch zu verhandeln.

Man findet im Netz verstärkt Äußerungen, die man in einem politischen Links-Rechts-Schema verorten könnte. So wird etwa bei den Themen Griechenland oder TTIP verstärkt die Frage nach dem ökonomischen System gestellt. Gibt es hier eine Renaissance alter politischer Frontstellungen?

Bieber: Man findet solche Ansatzpunkte sicherlich, vor allem in den verkürzten Äußerungen. Je differenzierter aber die geäußerte Meinung, desto schwieriger wird es, sie in einem Links-Rechts-Schema zu verorten. Da stellt man sehr schnell fest, dass es viel komplizierter ist, als man wahrhaben will.

Ist man denn heute noch auf dem aktuellen politischen Stand, wenn man diese Netzdebatten nicht verfolgt?

Bieber: Das hängt vom Anspruch ab, den der Einzelne an seine politische Informiertheit stellt. Der normale Bürger kann sich durch die traditionellen Medien so informieren, dass es aus seiner Alltagsperspektive ausreichend ist. Bei der professionellen Debatte würde ich mir aber einen verstärkten Blick ins Netz wünschen, damit auch andere Positionen zu Wort kommen.

Welche zum Beispiel?

Bieber: Ich empfehle einen Blick in die Blogs von Ökonomen, aber auch auf die Facebook-Seiten von Autoren aus den traditionellen Medien, die ihre Artikel in der Auseinandersetzung mit den Usern gewissermaßen weiterschreiben. Ich fände es gut, wenn auch beim normalen Bürger nach der Zeitungslektüre der Impuls entstehen würde, über den Tellerrand zu schauen und sich in gewisse Aspekte tiefer einzuarbeiten. Den Anspruch, diesen Impuls auszulösen sollte ein guter politischer Journalist eigentlich immer haben. Da geht in der Berichterstattung einiges verloren. Wenn man sich manche TV-Kommentatoren anschaut, die meinen, mit zwei Sätzen alles erklären zu können, dann kann das beim Thema Griechenland nicht funktionieren. Darin liegt für ein Aufklärungsideal vielleicht eine viel größere Gefahr als in einer einzelnen polemischen Äußerungen von jemandem wie Dieter Nuhr.