1. Politik

Ralf Woelk, DGB-Chef in der Region Aachen, im Interview.

Interview mit DGB-Chef Ralf Woelk : Was der Koalitionsvertrag für Arbeitnehmer bedeutet

Ralf Woelk, DGB-Chef in der Region Aachen, hat die Koalitionsvereinbarungen der Ampel unter die Lupe genommen. Sein Urteil: Ein Papier mit Stärken und einigen Schwächen.

Positiv haben die Gewerkschaften auf die Bildung des Ampel-Bündnisses in Berlin reagiert. Das heißt allerdings nicht, dass die Arbeitnehmervertreter dem Koalitionsvertrag kritiklos gegenüberstehen. Über die Stärken und Schwächen des Papiers vor allem hinsichtlich der geplanten Änderungen in der Arbeitswelt sprach unser Redakteur Joachim Zinsen mit dem Aachener DGB-Chef Ralf Woelk

Herr Woelk, die Ampel will den Kohleausstieg „idealerweise“ von 2038 auf das Jahr 2030 vorziehen. Ist das eine gute Entscheidung?

Ralf Woelk: Spätestens die Hochwasserkatastrophe in unserer Region hat gezeigt, dass wir auf den Klimawandel noch schneller reagieren müssen. Deshalb überrascht mich die Entscheidung nicht. Die Zielmarke 2030 ist allerdings äußerst ambitioniert.

Das klingt ein wenig skeptisch.

Woelk: Die im Kohleausstiegsgesetz für 2038 vorgesehenen Haltelinien müssen jedenfalls auch für 2030 Bestand haben. Das heißt: Es muss sichergestellt sein, dass die regenerativen Energien zügig ausgebaut werden können. Es muss das große technische Problem gelöst sein, regenerative Energie zu speichern. Und es muss gelingen, die notwendigen Netzkapazitäten für eine dezentrale Stromversorgung zu schaffen. Die Überprüfung dieses Ausstiegspfades ist nun von 2026 auf 2022 vorgezogen worden. Es ist aber fraglich, ob wir nächstes Jahr um diese Zeit bei diesen Fragen bereits entscheidend vorangekommen sein werden. Zum erfolgreichen Strukturwandel gehört zudem die Schaffung von ausreichenden Ersatzarbeitsplätzen.

 Ralf Woelk sieht im Koalitionsvertrag der Ampel viele Forderungen der Gewerkschaften erfüllt.
Ralf Woelk sieht im Koalitionsvertrag der Ampel viele Forderungen der Gewerkschaften erfüllt. Foto: Andreas Herrmann

Ist das mit Blick auf die tausenden Jobs, die im Rheinischen Braunkohlerevier wegfallen werden, realistisch?

Woelk: Es gibt eine Vielzahl von Branchen, die sich dynamisch entwickeln. In unserer Region ist es beispielsweise die Elektromobilität. Aber daraus ergeben sich nicht automatisch neue Industriearbeitsplätze. Deshalb muss über die 14 Milliarden Euro hinaus, die für den Strukturwandel in unsere Region fließen sollen, weiter investiert werden. Und zwar nicht nur in Forschungsprojekte, sondern auch unmittelbar in gute Jobs. Geschieht dies, bin ich zuversichtlich, dass der Strukturwandel bis 2030 gelingen kann.

Stichwort gute Arbeit: Mit der Entscheidung der Ampel, den gesetzlichen Mindestlohn im kommenden Jahr auf zwölf Euro anzuheben, müssten Sie hochzufrieden sein.

Woelk: Bin ich auch. Die Anhebung war überfällig. Zehn Millionen Beschäftigte werden davon unmittelbar profitieren. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass er auch für Arbeitnehmer unter 18 Jahre und für Langzeitarbeitslose, die wieder einen Job gefunden haben, gelten soll. Das ist in der Koalitionsvereinbarung nicht vorgesehen.

Die Gewerkschaften haben in der Vergangenheit wiederholt beklagt, dass Arbeitgeber schon den bisherigen gesetzlichen Mindestlohn von 9,60 Euro häufig nicht zahlen. Wie kann verhindert werden, dass gleiches mit der neuen Untergrenze geschieht?

Woelk: Je höher der Mindestlohn liegt, desto größer ist natürlich das Risiko, dass einige Arbeitgeber versuchen, ihn zu umgehen. Deshalb muss stärker kontrolliert werden, ob er tatsächlich eingehalten wird. Dazu braucht der Zoll deutlich mehr Personal, um hier wirksame Kontrollen durchführen zu können. Das heißt: Es müssen nicht nur mehr Stellen bereitgestellt werden, es gilt vor allem auch genügend Menschen zu finden, die sich für solch eine Aufgabe qualifizieren lassen.

Parallel zum besseren Mindestlohn wollen die neuen Koalitionäre die Minijob-Hinzuverdienstgrenze von 450 auf 520 Euro erhöhen. Die Gewerkschaften sehen das kritisch. Warum?

Woelk: In vielen Branchen gehören Minijobs inzwischen zum Geschäftsmodell. Laut einer aktuellen Studie liegt ihre Quote in Kleinstunternehmen mit bis zu neun Arbeitnehmern bereits bei 40 Prozent. Deutschlandweit gibt es inzwischen siebeneinhalb Millionen Minijobs. Sie verdrängen sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Zudem ist längst nachgewiesen: Minijobs sind keineswegs eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: Sie halten vor allem Frauen in der Teilzeitfalle und schließen sie von Tariflöhnen aus, oft zu deren eigenem Schaden, zum Schaden der Sozialversicherungskassen und zum Schaden aller dort einzahlenden Beschäftigten.

Die sachgrundlosen Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen will die Ampel-Koalition hingegen abschaffen.

Woelk: Allerdings nur im öffentlichen Dienst. Das ist zu kurz gesprungen. Warum nicht auch in der Privatwirtschaft? Im Koalitionsvertrag ist die Rede davon, der öffentliche Dienst solle Vorbildcharakter haben. Mich würde es allerdings sehr wundern, wenn die Privatwirtschaft freiwillig nachzieht. Aber es besteht ja die leise Hoffnung, dass Arbeitgeber angesichts des Fachkräftemangels künftig ihre Beschäftigten stärker an die Unternehmen binden wollen und von daher auf die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen freiwillig verzichten.

Die Ampel verspricht für gute Löhne zu sorgen, indem sie die Tarifbindung stärkt.

Woelk: Dieser Punkt war einer der zentralen Forderungen des DGB vor der Bundestagswahl. Die Koalitionsvereinbarungen dazu sind allerdings eher mager. Positiv ist zwar, dass der Bund künftig nur noch Aufträge der öffentlichen Hand an Unternehmen vergeben will, die Tariflöhne zahlen. Gleiches gilt auch für die Ankündigung, dass künftig Tarifverträge bei Betriebsausgliederungen nachwirken sollen. Aber das Grundproblem bleibt. 

Nämlich?

Woelk: Die Tarifflucht wird nicht eingedämmt. Nach wie vor ist es Arbeitgebern möglich, den Arbeitgeberverband zu verlassen und so der Tarifbindung zu entgehen. Zudem fehlt im Koalitionsvertrag die Ankündigung dafür Sorge zu tragen, dass Tarifverträge für gesamte Branchen leichter als allgemeinverbindlich erklärt werden können. In meinen Augen ist das ein schwerwiegendes Versäumnis.

Gleichfalls hat die Koalition angekündigt, „Experimentierräume“ für eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung zu schaffen. Ist das notwendig?

Woelk: Nein. Die Gewerkschaften haben bereits in der Vergangenheit einer Vielzahl von flexiblen Arbeitszeitmodellen zugestimmt. Ich sehe keine Notwendigkeit für weitere Experimente. Offenbar konnte sich aber in diesem Punkt die FDP durchsetzen. Sie scheint damit der Forderung von Arbeitgeberverbänden zu folgen, die verlangen, die tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden aufzuweichen. Das könnte vor allem Branchen wie den Einzelhandel oder das Hotel- und Gaststättengewerbe betreffen, in dem Beschäftigte jetzt schon oft mit schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, werden sich die Gewerkschaften dagegen zu wehren wissen.

Sie haben jetzt einige Punkte des Koalitionsvertrags kritisiert. Was stimmt Sie als Gewerkschafter an ihm am positivsten?

Woelk: Zum einen die geplante Kindergrundsicherung. Derzeit leben 20 Prozent der Kinder in Armutsverhältnissen. Sie unabhängig vom Status der Eltern besser zu fördern, ist sehr positiv. Zum anderen wird in dem Papier der größten Herausforderung, vor dem die Betriebe in den kommenden Jahren stehen, enormer Platz eingeräumt – nämlich der Digitalisierung und der Transformation der Unternehmen hin zu einem CO2-freien Wirtschaften. Unsere Forderung nach einem Transformationsfonds ist in dem Vertrag aufgenommen worden. Das wird dabei helfen, den Industriestandort Deutschland zu sichern. 

Ihr Resumee zum Koalitionsvertrag: Ist das Glas aus Gewerkschaftssicht halb leer oder halb voll?

Woelk: In dem Glas ist sehr viel an gewerkschaftlichen Forderungen enthalten: der erwähnte Transformationsfonds, die Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung, keine Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Kindergrundsicherung, die Überwindung von Hartz 4, eine Ausbildungsgarantie, Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung sowie nicht zuletzt die Erhöhung des Mindestlohns. Deshalb überwiegt bei mir die Zuversicht, dass sich unsere Gesellschaft in den kommenden vier Jahren zu etwas noch Besserem entwickeln kann.