„Völlig unsinnig“ : Kritik an EU-Notfallplan zur Lebensmittelsicherheit
Brüssel Die EU will aus Sorge vor Versorgungsengpässen am Mittwoch einen Notfallplan zur Lebensmittelsicherheit vorstellen. Dafür soll sogar in Teilen der Grüne Deal ausgesetzt werden. Umweltschützer sind bestürzt.
Der Ärger auf manchen Etagen im Brüsseler EU-Parlament war bereits groß, da hatte die Kommission ihren Notfallplan zur Lebensmittelsicherheit noch überhaupt nicht vorgestellt. Ein Leak sorgte für Unmut unter einigen Abgeordneten. Demnach will die Behörde am Mittwoch in Teilen den Grünen Deal aussetzen, um angesichts des Angriffskriegs Russlands die Widerstandsfähigkeit der Nahrungsmittelversorgung in der EU zu stärken und die Produktion von Futter- und Lebensmitteln auszuweiten.
Denn die Ukraine gilt noch immer als Kornkammer Europas. Ausgerechnet dem so gern gepriesenen Vorzeigeprojekt der Staatengemeinschaft soll es aus Sorge vor Ausfällen deshalb zeitweise an den Kragen gehen? Mit dem gewaltigen Klima- und Umweltschutzprogramm will Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Der agrarpolitische Sprecher der Grünen im EU-Parlament, Martin Häusling, sprach gestern gegenüber unserer Zeitung von einem „Frontalangriff auf alle Umweltgesetzgebungen“, die agrarpolitische Sprecherin der Europa-SPD Maria Noichl nannte es eine „Katastrophe“ und schimpfte, dass „im Schatten des Krieges konservative Politiken durchgedrückt“ würden.
Die Kommission reagiert mit den Notfallmaßnahmen, die auch Finanzhilfen für die Bauern vorsehen, auf Forderungen von Agrarverbänden und Landwirtschaftsvertreter, laut denen man Probleme bekomme, aus der Ukraine importiertes Getreide zur Verfütterung sowie Sonnenblumenöl so einfach zu ersetzen.
Zu den wichtigsten Säulen des Grünen Deals gehört die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (Farm to Fork). Damit sollen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion nachhaltiger, gesünder, tierfreundlicher gestaltet werden, verbunden mit einem Produktionsrückgang von 13 Prozent. Die Brüsseler Behörde will den Plan bis 2030 umsetzen. Eigentlich. Denn nun herrscht Krieg. Und die Vorhaben, nach denen die Agrarpolitik ökologischen Zielen folgen soll, stammten aus einer „Vor-Ukrainekrieg-Zeit“, wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron gerade erst sagte – selbstverständlich im Wahlkampfmodus.
Denn eine Sache betonte die Kommission auch jetzt: Europas Versorgung ist keineswegs durch den Krieg gefährdet, selbst wenn Landwirte hierzulande die wegen der Lieferausfälle gestiegenen Preise für Tierfutter und Dünger beklagen. Anders sieht es in Nordafrika und im Nahen Osten aus, wo Engpässe drohen, die Vereinten Nationen warnen vor Hungersnöten. Beinahe 30 Prozent aller globalen Weizenexporte kommen aus der Ukraine und Russland, fast 20 Prozent sind es bei Raps und Mais.
Staaten wie Ägypten oder Eritrea beziehen mehr als 70 Prozent ihres Weizens aus jenen Ländern, im Libanon stammen etwa 45 Prozent der Getreide-Einfuhren daher. Die europäische Landwirtschaft erhält mehr als die Hälfte des Maises aus der Ukraine und insbesondere Soja, das vor allem für die Fleischproduktion verwendet wird, also in der Tiermast. Deshalb berieten die Agrarminister am Montag in Brüssel über eine Erhöhung der Produktion innerhalb Europas. Die EU-Kommission schlägt nun vor, Brachflächen soweit wie möglich für die Nahrungsmittelerzeugung und die Tierfütterung zu reaktivieren oder solche, die bisher für ökologische Landwirtschaft reserviert waren.
Der Abgeordnete Norbert Lins (CDU), Vorsitzender des Agrarausschusses im EU-Parlament, begrüßte die Ankündigung. „Jede Tonne mehr an Weizen ist nicht nur eine Tonne mehr für die Ernährungssicherheit in der EU und die Bekämpfung des Hungers in der Welt.“ Es sei „auch eine Tonne gegen Putin und für Demokratie“. Gleichwohl geht ihm der Notfallplan nicht weit genug, da die Knappheit seiner Meinung nach mindestens bis zur Ernte 2023 anhalten werde. Ausnahmegenehmigungen des Grünen Deals nur auf dieses Jahr zu beschränken, reiche deshalb nicht aus.
Laut Kommissions-Entwurf dürften Mitgliedstaaten geltende ökologische Auflagen im laufenden Jahr aussetzen, was heißt, dass die Landwirte die Flächen auch mit Pestiziden bewirtschaften können. „Damit sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen“, kritisierte Grünen-Politiker Häusling. „Der Krieg wird irgendwann zu Ende gehen, aber die Klimakrise und die Biodiversitätskrise halten an.“ Für ihn zieht die Kommission die falschen Schlüsse. In Europa habe man „den Luxus, dass wir 60 Prozent des Getreides in den Futtertrog werfen“.
Anstatt das europäische Agrarmodell zu hinterfragen, nach dem man eine Überversorgung von Fleisch und Milch fabriziere, würde man jetzt noch mehr produzieren wollen. SPD-Frau Noichl sieht es ähnlich. Wenn in Europa einerseits zu viel Fleisch hergestellt werde, sodass die EU am Ende sogar Geld gibt für das Einlagern von Schweinefleisch, und andererseits ökologische Flächen hergegeben werden sollen für die Futtererzeugung, weil man angeblich zu wenig Futter hat, dann sei das „völlig unsinnig“.