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Kommentiert: Wie ein Märchen wahr werden kann

Kommentiert: Wie ein Märchen wahr werden kann

Es war einmal in Utica im US-Bundesstaat New York. Als in den 70er Jahren die Schwerindustrie zu Grunde ging, bedeutete das den Verfall der 100.000-Einwohner-Stadt. Die Häuser und das Zentrum verlotterten, die Arbeitslosenquote stieg, die Menschen wanderten ab. Doch dann kamen die Flüchtlinge.

Zunächst aus Vietnam, später aus Bosnien und Herzegowina und vielen anderen Teilen der Welt. Heute leben 60.000 Menschen in Utica, jeder vierte ist ein Flüchtling. Der Wirtschaft geht es gut, das kulturelle Leben ist vielfältig. Laut einer Umfrage sind knapp 70 Prozent der Einwohner einverstanden mit der Aufnahme der Flüchtlinge. Und das aus gutem Grund: Ohne die Flüchtlinge und ihre Schaffenskraft wäre die Stadt verloren gewesen.

Utica ist nicht Düsseldorf oder München. Über Utica ist nie eine Flüchtlingswelle gerollt, wie in diesen Tagen über Deutschland. Es gibt in der Nachkriegszeit unseres Landes keine Blaupause dafür, wie wir eine derart große Zahl von Flüchtlingen in Rekordzeit auffangen könnten. Zu viele Menschen auf einmal aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen und mit den unterschiedlichsten Religionszugehörigkeiten strömen zu uns. Die Politik ist überfordert, die Lage ist dramatisch. In Utica war es anders. Und doch lohnt der Vergleich, weil er zwei Dinge zeigt, die für eine erfolgreiche Integration unerlässlich sind.

Arbeit

Wer Menschen, die aus Angst vor Krieg und Tod ihre Heimat verlassen haben, in der Ferne eine Per-spektive und einen neuen Lebenssinn geben will, der gibt ihnen Erwerbsarbeit. Arbeit ist der Schlüssel jeder gelungenen Inte-gration. Arbeit gibt dem Leben Sinn und Struktur. Wer — wie etwa Asylbewerber in Deutschland — nicht arbeiten darf, der hat Langeweile, sieht keine Perspektive und läuft Gefahr, sich dauerhaft in diesem Zustand einzurichten. Nicht zuletzt erhöht sich das Risiko für eine kriminelle Karriere.

Auch wenn politisches Asyl die Qualifikation der Flüchtlinge nicht beachten darf, so gilt doch: Perspektivisch benötigt die alternde deutsche Gesellschaft Einwanderung. Natürlich ist nicht jeder Flüchtling ein potenzieller Facharbeiter, doch gerade die Qualifikation vieler syrischen Mi-granten ist unbestritten. Auch wenn ein eritreischer Viehbauer hierzulande keine Lücke in der Forschungsabteilung bei Ford schließen kann, so sollten wir alles dafür tun, dass seinem Sohn oder seiner Tochter diese Chance offensteht.

Wirtschaftsverbände und Unternehmen drängen darauf, mehr Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Der deutschen Wirtschaft geht es gut. Die Voraussetzungen sind also ideal. Es geht darum, die Potenziale zu nutzen. So werden Lücken auf dem Arbeitsmarkt geschlossen und gleichzeitig neue Existenzen aufgebaut.

Auch auf dem Ausbildungsmarkt sind die Voraussetzungen gut. „Die Gesellschaft muss sich für die vielen jungen Menschen einsetzen, die durch Krieg und Vertreibung zu uns kommen. Das Handwerk ist bereit dazu“, sagt der Präsident des Zentralverbandes Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer. Und erst vorgestern erklärte Peter Deckers, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Aachen, in unserer Zeitung, dass im gerade begonnenen Ausbildungsjahr nehr als 300 Lehrstellen nicht besetzt werden konnten.

Sprache

Neben Arbeit ist die Sprachbildung die zweite wichtige Säule der Integration. Zum Willkommenspaket der Flüchtlinge in Utica gehört wie selbstverständlich ein Sprachkurs. Wer die Landessprache beherrscht, hat Job-Chancen, meistert den Alltag und baut nicht zuletzt eine emotionale Beziehung zu dem Land und dessen Menschen auf. Bleibt den Flüchtlingen der Zugang zur Sprache verwehrt, wird die Eingliederung kaum Erfolg haben. Es drohten die Isolation und das Herausbilden von Parallelgesellschaften. Beim Thema Sprache sind die Flüchtlinge natürlich auch selbst in der Pflicht. Das Prinzip Fördern und Fordern ist und bleibt unumstößlich.

Fakt ist: Sollte sich die prinzipielle Ausrichtung der deutschen Asylpolitik, die zu den Grundfesten dieses Landes gehört, nicht grundlegend ändern, wird von den möglicherweise bis zu einer Million Flüchtlingen ein großer Teil dauerhaft bleiben. Und so schwierig die aktuelle Lage auch ist: Wir brauchen Einwanderer, und sie brauchen uns. Integration kann gelingen. Aber nur mit vereinten Kräften.

Es war einmal... So fangen die meisten Märchen an. Manchmal werden sie wahr.