Brüssel : Griechenland: Mit Wut im Bauch, aber noch ohne klare Sicht
Brüssel Der Störenfried ist weg. Wie gerne hätte die EU diese Nachricht am frühen Montagmorgen nach einem anderen Ergebnis des Referendums in Griechenland gehört. Die Finanzminister standen bereit, die Staats- und Regierungschefs auch.
Und der 54-jährige Gianis Varoufakis, der die Verhandlungen mit den Geldgebern auf so unvergleichlich penetrante Weise aufgehalten, ja gestört hatte, endgültig nicht mehr mit am Tisch. Aber so einfach ist die Lage nicht.
Athen versank bis zum frühen Montagmorgen in einem Siegestaumel, den — so ein hellenischer Europaabgeordneter — man „zum letzten Mal beim Gewinn der Fußball-Europameisterschaft 2004 erlebt hat“. Dabei ist nichts gelöst. Von einer Erleichterung der Gespräche durch den Varoufakis-Rücktritt spricht Parlamentspräsident Martin Schulz. Aber er sagt auch: „Es hängt nicht davon ab, wer verhandelt, sondern über was verhandelt wird.“ Genau das weiß niemand.
Zwar hat Athens Premierminister Alexis Tsipras bereits am Sonntagabend erklärt, sein Land sei zu Reformen bereit, und am Montag in einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigt, am Dienstag neue Vorschläge gegen die Schuldenkrise vorzulegen. Dringend nötig seien aber auch Investitionen sowie die Umstrukturierung der Schulden. „Das Mandat, das Sie mir erteilt haben, ruft nicht nach einem Bruch mit Europa, sondern verleiht mir größere Verhandlungsmacht“, sagt er vor seinen Landsleuten.
Juncker telefoniert
60 Prozent der Wähler haben sich gegen die Reformauflagen der Geldgeber ausgesprochen. Griechenland beginnt, von einem Tag auf den nächsten zu leben. Zwar telefonierten schon am frühen Morgen die Spitzen der EU-Institutionen Jean-Claude Juncker (Kommission), Donald Tusk (Europäischer Rat), Mario Draghi (Europäische Zentralbank) und Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem miteinander. Am Dienstag werden die Euro-Finanzminister und am Abend die Staats- und Regierungschef der Währungsunion zusammenkommen.
Doch die entscheidende Runde dieses Montags fand in der Chefetage der Frankfurter Euro-Bank statt: „Die EZB wird nicht den Stecker ziehen“, mutmaßte der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Michael Fratzscher, bevor die Entscheidung fiel: Griechenlands Banken hätten genug Reserven, um ohne Liquiditätshilfen bis Mittwoch zu überleben, hieß es in Frankfurt. Morgen werde noch einmal beraten — mit anderen Worten: Man wartet ab, was Tsipras in Brüssel zu bieten hat, ehe man frisches Geld bewilligt. Es wäre ohnehin nur ein Befreiungsschlag mit begrenzter Haltbarkeit. Sollte Athen am 20. Juli nicht seine Rate von gut 3,5 Milliarden Euro nach Frankfurt überweisen, muss die EZB ihren Regeln folgen und die Kredite kündigen: Griechenland würde endgültig abstürzen.
Doch am Montag geht das noch einmal gut. Auch wenn niemand weiß, wie. Merkel schloss ein drittes Hilfspaket aus. Sie weiß, dass sie damit sonst die eigenen Reihen im Bundestag gegen sich aufbringen würde. Was bliebe, wäre ein Griff in die Kriegskasse des dauerhaften ESM-Rettungsschirms in Luxemburg. Schließlich liegen dort Kreditzusagen von über 700 Milliarden Euro als „Stabilitätshilfe unter angemessenen Auflagen“, wie es im ESM-Vertrag heißt. Dafür muss aber ausdrücklich eine Notlage vorliegen (siehe unten). Man wird sich schwer tun, die nun plötzlich auszurufen. Immerhin hat der für den Euro verantwortliche Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombroskis, am Montag nochmal unterstrichen: „Die Stabilität der Euro-Zone ist nicht infrage gestellt.“
Gabriel moniert
Nun warten die 18 Partner Griechenlands in der Währungsunion auf „neue Vorschläge aus Athen“. Nachdem bisher schon 18 Angebote, Vorlagen, Listen und Kataloge gescheitert sind, hat am Montag niemand in der EU-Chefetage eine Ahnung, woher eine Lösung kommen sollte. Dass Tsipras am Dienstag in Brüssel anders auftreten, ja verbal abrüsten muss, wird allgemein erwartet. Der Rücktritt seines umstrittenen Finanzministers war zweifellos ein Signal; allerdings pochte Athen zuletzt auf 29 Milliarden Euro für zwei Jahre — finanziert durch den ESM-Rettungsschirm. Damit sollen die innerhalb der nächsten 24 Monate anfallenden Raten für die EZB und den Internationalen Währungsfonds (IWF) beglichen werden. Außerdem will man die Schulden umstrukturieren.
Selbst führende IWF-Funktionäre hatten sich in den letzten Tagen wiederholt für einen Schuldenschnitt ausgesprochen, der aber war von der Euro-Familie strikt abgelehnt wird — nicht zuletzt wegen fehlender Gegenleistungen, also Reformen, die Athen innenpolitisch umsetzen müsste.Was nun kommen könnte, ist vielen unklar. Die Staats- und Regierungschefs erwarten von Tsipras am Dienstag ein Angebot und nicht nur Forderungen. Der griechische Premier muss seinen Sieg vom Sonntag zu Geld machen. Dass das nicht ohne Eigenleistung geht, sollte er wissen. Bisher kann er nur auf eine unumstößliche Absicht seiner Partner bauen: Aus der Eurozone wollen ihn die anderen nicht drängen. „Der Grexit ist und bleibt eine theoretische Diskussion“, wird aus dem Umfeld von Währungskommissar Pierre Moscovici kolportiert. Juncker, Merkel, Hollande — sie alle denken ebenso.
Zwischen Fachleuten, Wirtschaftsexperten und ökonomischen Weisen sowie den politisch Verantwortlichen klaffen unüberbrückbare Gegensätze. Der durchaus einflussreiche französische Finanzminister Michel Sapin signalisierte Bereitschaft, auch über die Verminderung der griechischen Schuldenlast zu sprechen. Zunächst sei aber Athen am Zuge und müsse „Vorschläge präsentieren“.
Europas Reaktion an diesem Montag hat viel mit Ratlosigkeit, aber wohl auch mit unterdrückter Wut über die bisherige Behandlung durch ein Land zu tun, das „letzte Brücken eingerissen hat, über die man sich auf einen Kompromiss hätte zubewegen können“, wie es der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ausdrückte. Doch solche emotionalen Analysen müssen spätestens am Dienstag zur Seite geschoben werden. Denn wenn am Abend die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, zählt nur noch eins: ein Ausweg, der noch dazu zügig möglich ist.