Berlin : Die Republik ist ab heute eine andere
Berlin In Berlin ist an diesem Wahltag die Welt zu Hause. Menschen aus 137 Staaten laufen einmal durch die ganze Hauptstadt, am Kanzleramt und Bundestag vorbei bis zum Wahrzeichen des Landes. Am Brandenburger Tor kommen die Sportler ins Ziel. Das Wetter am Morgen ist trübe, aber die Stimmung ist bunt. Der Marathon wird weltweit übertragen — und danach die Ergebnisse der Bundestagswahl. Sie sorgen am Abend für Erschütterung. Deutschland rückt nach rechts. Die Republik wird sich verändern.
Erstmals seit mehr 60 Jahren kommt mit der Alternative für Deutschland (AfD) wieder eine Rechtsaußenpartei in den Bundestag. Für die Union mit Europas dienstältester Regierungschefin an der Spitze sieht es nach dem schlechtesten Ergebnis in der Kanzlerschaft von Angela Merkel aus. Der Koalitionspartner SPD stürzt ab, sein Personaltableau wird sich verändern, Kanzlerkandidat Martin Schulz kündigt umgehend den Gang in die Opposition an. Damit verhindern die beschädigten Sozialdemokraten, dass die AfD als drittstärkste Kraft Oppositionsführerin wird.
Die Parteienlandschaft zersplittert. Die FDP kommt nach ihrer Niederlage 2013 eindrucksvoll zurück, Linke und Grüne bleiben stabil. Aber wie stabil bleibt Deutschland, die große Volkswirtschaft, auf die Brüssel, Washington, Moskau, Paris wirtschaftlich und politisch so achten?
Kommt Merkel ins Grübeln?
Als einzige Koalitionsmöglichkeit bietet sich eine Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen an. Das gab es auf Bundesebene noch nie. Und der Testlauf in Schleswig-Holstein seit diesem Sommer ist kurz und schwer vergleichbar mit dem Bund.
Gleich nach den Hochrechnungen versammeln sich Demonstranten gegen Rechts in Berlins Mitte. Sie protestieren gegen rassistische und völkische Töne der AfD. Merkel tritt derweil in der CDU-Parteizentrale auf und wird bejubelt, als hätte sie wieder 40 Prozent geholt. „Angie, Angie, Angie“ ruft die Parteijugend. Merkel versichert, die Union wolle die Wähler der AfD zurückgewinnen. Durch gute Politik, das Lösen von Problemen und das Ernstnehmen der Sorgen.
Sie räumt zwar ein, dass sie sich ein besseres Ergebnis gewünscht hätte. Aber nach zwölf Jahren Regierungsverantwortung sei es auch keine Selbstverständlichkeit, dass die Union ihre strategischen Ziele erreicht habe. Das sind: Die Union wurde stärkste Kraft, hat einen Regierungsauftrag, und gegen sie kann keine Regierung gebildet werden.
Das nennt man vielleicht auch schönreden. Merkel könnte in dieser Wahlnacht womöglich ins Grübeln kommen, ob ihre Entscheidung im vorigen November falsch war, zum vierten Mal anzutreten. Sie wollte immer selbstbestimmt und nicht als „halbtotes Wrack“ aus der Politik ausscheiden. Aus dem CDU-Präsidium verlautet, das wolle sie immer noch. Sie wolle auf jeden Fall die Koalitionsverhandlungen und die neue Regierung in ruhiges Fahrwasser führen. Dann mal sehen.
Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ist seit langem im Gespräch für die Merkel-Nachfolge, will aber im Saarland bleiben. Sie ist eine der ersten, die die Unions-Schlappe erörtert und den Blick nach vorn richtet.
Strauß dreht sich im Grabe um
Franz Josef Strauß wird sich angesichts des AfD-Erfolgs im Grab umdrehen. Die vom CSU-Übervater vor mehr als 30 Jahren für die Union gezogene Grenze ist gefallen. „Es darf rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Gruppierung von politischer Relevanz geben“, hatte der stramm konservative Haudegen damals gesagt — als Kampfansage an die rechtsradikalen Republikaner.
CSU-Chef Horst Seehofer hatte das im vorigen Jahr erneuert. Merkel sagte damals nur: nicht um jeden Preis. Es dürften keine Prinzipien aufgegeben werden, „die den Kern unserer Überzeugungen ausmachen“. Seehofer blieb die Spucke weg. Viele machen Merkel nun für die schweren Einbußen der Union verantwortlich. Ein Fernsehmoderator präsentiert eine Statistik, wonach 1,2 Millionen frühere Nichtwähler nun ihr Kreuz bei der AfD gemacht hätten — und eine Million vorherige Unionswähler. Eine tiefe Fleischwunde.
Die Bundeskanzlerin habe mit ihrer Flüchtlingspolitik 2015 das Land gespalten, heißt es in CSU- und CDU-Kreisen. Dass Deutschland durch seine Willkommenskultur vor allem für syrische Flüchtlinge weltweit an Ansehen gewann, geht dabei schon wieder unter. Die einstige Zwangsarbeiterin, die Wienerin Ruth Klüger, hatte Merkels Slogan „Wir schaffen das“ als „heroisch“ bezeichnet. Deutschland sei einst für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich gewesen und habe 80 Jahren später „dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit“ für weltweite Begeisterung und Rührung gesorgt.
Die Rechtspopulisten aber bekamen Auftrieb. Es nutzte auch wenig, dass Merkel selbst einen vorübergehenden „Kontrollverlust“ einräumte, weil vor zwei Jahren zahlreiche Flüchtlinge wegen des Ansturms nicht registriert worden waren und das Asylrecht verschärft wurde wie nie zuvor.
Seehofer hatte versucht, mit hartem Widerstand gegen Merkel AfD-Anhänger zur Union zu holen. Er setzte Merkel unter Druck, drohte mit Verfassungsklage und forderte eine Obergrenze von 200.000 neu ankommenden Schutzsuchenden pro Jahr.
Jamaika - und die Probleme
Er dürfte jetzt kaum davon abzubringen sein, diese Obergrenze zur Bedingung für einen Koalitionsvertrag zu machen — was Merkel nicht will und die Grünen schon gar nicht. Da fängt es dann schon an mit den Problemen eines Jamaika-Bündnisses. Und da es derzeit als einzige Koalitionsmöglichkeit erscheint, dürften die Verhandlungen knallhart werden. Am Sonntagabend spricht Seehofer jedenfalls von einer „herben Enttäuschung“. Es gelte, die „offene Flanke“ zu schließen — mit „klarer Kante“. Seehofer hat 2018 eine Landtagswahl vor sich.
Deutschland erlebt nun, was in Nachbarstaaten längst Normalität ist — nur hat Deutschland mit den Nazis die schlimmste Vergangenheit und auch deswegen findet diese Wahl mit diesem Ausgang in der Welt so viel Beachtung.
Im Wahlkampf schlugen Merkel Hass und Pöbelei entgegen. Als „Volksverräterin“ wurde sie beschimpft. Überwiegend im Osten, wo sie aufgewachsen ist. Wo Anhänger der AfD neben denen der rechtsextremen NPD standen. Nun geht die Angst um, dass die AfD eine Sprache wählen wird, die die Stimmung vergiftet. Die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel hatte erklärt, dass für sie die „politische Korrektheit auf den Müllhaufen der Geschichte“ gehöre.
Damit dürfte es für die erfahrenen Parteien ein langer Weg werden, AfD-Anhänger zurückzugewinnen.