Vom Bonner Büdchen an die Spree : Politik und ihre Macher haben sich mit dem Umzug nach Berlin verändert
Berlin Am anderen Ende der Leitung: Peter Struck. „Schreib’ mal auf, ich hab’ da was. Wir haben gerade eine Aktuelle Stunde durchgesetzt. Der Dicke kann sich warm anziehen.“ Struck war in seinem Element. Als Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion zog er Strippen, auch solche am Telefon, wenn er Anfang der 1990er Jahre in Sitzungswochen in Bonn spätabends die diensthabenden Tischredakteure der Nachrichtenagenturen persönlich anrief.
Die Szene ist heute undenkbar. Heute gibt es für solche Dinge öffentliches, weltweit verbreitetes Gezwitscher, kurz Twitter. Ein Tweet, ein Druck auf den Sendeknopf, schon ist die Sache in Echtzeit in der Welt. Richtig oder falsch. Auf Twitter glaubt jeder, alles zu dürfen. Den Begriff „Fake News“, als Synonym für systematisch verbreitete Falschmeldungen gegen besseres eigenes Wissen, gab es damals noch nicht, auch wenn Halbwahrheiten, Unwahrheiten oder Lügen natürlich auch schon zu Bonner Zeiten Instrument versuchter politischer Beeinflussung und Irreleitung waren.
Aber bitte, wenn gar nichts mehr hilft: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wird es schon richten. Hoffte die Opposition. Und das tut sie bis heute. Otto Schily (SPD), Innenminister bereits der Berliner Republik, zerbricht bei einem Zeugenauftritt seine Brille. Hans-Christian Ströbele (Grüne) bietet ihm eine Ersatzbrille an. Schily: „Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, ob Sie meine Weitsicht haben.“
Gemütlich und überschaubar
Weitsicht. Nahsicht. Innensicht. Vor allem um letzteres, um den Blick in innere Entscheidungszirkel, geht es in der Politik. Klein, gemütlich, überschaubar und einigermaßen berechenbar war das Politikgeschäft in Bonn, der Stadt am Rhein, die damals noch lange nicht UN-Stadt war und deren Gemütsverfassung der Krimiautor John Le Carré auch so beschrieb: „Entweder es regnet oder die Bahnschranken sind runter. Tatsächlich passiert natürlich beides gleichzeitig. Eine Insel, durch den Nebel von der Welt abgeschnitten, so sieht’s hier aus. Es ist ein recht metaphysischer Flecken: die Träume haben die Realität völlig verdrängt...“
Erst das Raumschiff Bonn. Und seit 1999, seit 20 Jahren, schwebt das Raumschiff über Berlin, das übertragen und gemessen am gestiegenen Gewicht Deutschlands in der Welt schon beinahe die Bedeutung und die Größe einer Internationalen Raumstation hat. Anfangs glaubten viele „Bonner“, man könnte Gepflogenheiten von Bonn nach Berlin einfach so hinübernehmen, dann hofften sie, man könnte sie wenigstens hinüberretten. Inzwischen wissen auch jene Bonner, die 1991 aus Rache für die Entscheidung des Bundestags zum Umzug nach Berlin die sogenannten „Berliner“ mit Senf statt mit Marmelade füllten, dass die Uhr weiter läuft. Zeit fragt nicht nach Umständen oder Gefühlen. Und diese Berliner Republik steht für eine andere Zeit, für einen Umbruch, für Neuanfang, für eine andere Größe.
Wer in Bonn als Abgeordneter, Lobbyist, Wahlkreisbesucher oder Korrespondent spätnachmittags, frühabends oder spätnachts bei „Ossi“ in der Bar des Wasserwerkes, wo viele Revolutionen erst geplant und dann ertränkt wurden, oder im „Mierscheid“ in der Bonner Südstadt auf Informations- und Spurensuche ging, konnte sicher sein, jemanden aus dem politisch-publizistischen Milieu dort zu treffen. „Weißt Du schon, der Mayer will jetzt mit dem Müller eine Initiative starten… Ist noch nicht durch, aber er will das morgen einbringen.“ Im Bundestag in Berlin gibt es auf der Fraktionsebene im dritten Obergeschoss zwar auch eine schöne Bar mit Blick auf den Rasen vor dem Reichstagsgebäude, aber diese Bar verkauft an elfeinhalb von zwölf Monaten im Jahr: null Liter Bier, null Liter Wein, null Liter Wasser. Sie ist da, aber nie in Betrieb.
Nur zu besonderen Anlässen, wie etwa dem Abend vor der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten oder wenn Bundestagsfraktionen zu einem Frühjahrs- oder Herbstempfang laden, gibt es Kaltgetränke zum politischen Zwiegespräch. Auch feste Kneipen als Börse für mehr oder minder harte Nachrichten wie in Bonn gibt es heute im Regierungsviertel keine mehr. Anfangs hat man versucht, mit dem „Kanzlereck“ oder auch in der „Ständigen Vertretung“ (StäV) am Schiffbauerdamm so etwas einzurichten. Aber im „Kanzlereck“ kocht jetzt ein Asiate und garantiert den schnellen Mittagstisch. Und die „StäV“ ist mehr Partyzone für Berlin-Besucher als Polittreff für Insider. Das „Café Einstein“ Unter den Linden ist vielleicht noch so etwas wie eine Halbwegs-Konstante der Polit-Treffpunkte.
Doch in Berlin bleibt nichts sehr lange angesagt, weil die nächste Welle sich schon aufbaut. Gestern noch Kreuzberg und Prenzlauer Berg, dann Friedrichshain und Lichtenberg, morgen wieder der alte Westen: Charlottenburg. Hippe Kneipennamen: „Der Club der polnischen Versager“. Aber wenn Polen mit den Versagern genug verdient hat, zieht die Karawane eben weiter. Permanent ist vor allem Veränderung. Das Stete in Berlin ist der Wandel, das Tempo, auch eine gewisse Oberflächlichkeit.
Eine Stadt mit dieser Geschwindigkeit wirkt sich natürlich auch auf die Art und Weise aus, in der Politik gemacht wird. 709 Abgeordnete hat dieser 19. Bundestag der Nachkriegsgeschichte – so viele wie nie zuvor. Jeder von ihnen drängt in die Nachrichten. Irgendwie. Der Kampf um Öffentlichkeit, darum, in dieser Metropole, in der heute 3,7 Millionen Menschen leben, überhaupt wahrgenommen zu werden, ist hart, sehr hart geworden. Auf beiden Seiten. Bei den Politikschaffenden und bei den Journalisten.
Die neue Währung: das Zitate-Ranking. Wer schafft es wie oft in die überregionalen Nachrichten? Hintergrundkreise gibt es weiter, doch anders als in Bonn, wo das Hintergrundgespräch zuverlässig noch Hintergründe beleuchtete, ist mit dem Umzug nach Berlin die Zahl dieser vertraulichen Zirkel deutlich nach oben gegangen. Dabei ist auch eine gewisse Unübersichtlichkeit und Durchlässigkeit mit nach Berlin gezogen. Was „unter drei“, also in der Rubrik „vertraulich“ erzählt wird, hat häufig keine Relevanz.
Es wird regiert, opponiert, gebaut und gereist. Auch zwischen Berlin und Bonn. Nach dem letzten Teilungskostenbericht stieg vor allem die Zahl der Dienstreisen zwischen Berlin und Bonn weiter an. 2017 verzeichneten die Ministerialen im Vergleich zum Bericht 2015 einen Zuwachs bei der Zahl der Dienstreisen aus Gründen der geteilten Regierungssitze um 405 (plus 1,8 Prozent) auf 22.330 Flüge, Fahrten und Übernachtungen an. Für Dienstreisen musste der Bund dabei rund 5,332 Millionen Euro ausgeben, eine deutliche Steigerung um 625.000 Euro (plus 13,3 Prozent) im Vergleich zum vorherigen Teilungskostenbericht. Die meisten Reisen und höchsten Kosten dieser teilungsbedingten Diensteinsätze gingen auf das Konto des Verteidigungsministeriums. Dort schlugen 4880 Dienstreisen zwischen Bonn und Berlin zu Buche. Kosten: knapp 1,2 Millionen Euro, davon wiederum 671.000 Euro für Flüge.
Zweithäufigste Flieger waren Bedienstete des Entwicklungshilfeministeriums mit 2132 Dienstreisen. Kosten hier: 667.000 Euro, davon 345.000 Euro für Flüge. Jene Ressorts, bei denen die Zahl der Dienstreisen gesunken sei, hätten als Grund für diesen Rückgang die weitere Verlagerung von Planstellen von Bonn nach Berlin angegeben, heißt es in dem Bericht. Dabei beteuert auch diese Koalition in ihrem Vertrag für das gemeinsame Regieren: „Wir stehen zum Berlin-Bonn-Gesetz. Bonn bleibt das zweite bundespolitische Zentrum.“ Außerdem gelobt der Bund, er werde mit der Region Bonn und den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz eine vertragliche Zusatzvereinbarung schließen, den sogenannten „Bonn-Vertrag“.
Ein bisschen gleichgültig
Bonn bekommt Geld und Bundesbehörden als Ausgleich für den nationalen (und internationalen) Bedeutungsverlust. Berlin ist Hauptstadt. Und pleite. „Arm, aber sexy“, hat der ehemalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die Tatsache beschrieben, dass das Bundesland Berlin mit 60 Milliarden Euro überschuldet ist. Berlin ist auch ein Weltmeister im Ignorieren. „Bin ick nich’ für zuständig“ oder „Kolleje kommt gleich“, stehen für eine in Berlin weit verbreitete Mentalität der Gleichgültigkeit.
In einer Stadt, in der jeder im Schlafanzug und Bademantel in die Kneipe gehen kann, wenn ihm gerade danach ist, ohne dass er auf seinen Gemüts- oder Geisteszustand angesprochen wird, wird auch Politik anders wahrgenommen. Alles nicht so wichtig. „Kieka, da kommt schon wieder die jroße Politik“, mosert der Berliner, wenn wieder eine Wagenkolonne mit Blaulicht den Verkehr an der Siegessäule oder dem Ernst-Reuter-Platz unnötig aufhält. Unlängst saß ein ehemaliger Vorsitzender einer Bundestagsfraktion in einem Charlottenburger Lokal, keine Frittenbude, sondern eher ein Treff des links-liberalen Bürgertums.
Das bestellte Auto des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages fährt vor. Der Kellner gibt dem Abgeordneten Bescheid: „Da ist gerade so eine Politik-Bonzenkarre vorgefahren. Das muss für Sie sein.“ Er stimmt zu, steigt in den Wagen und lässt sich zurückbringen – ins Raumschiff Berlin.