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RKI-Präsident im Porträt: Die Mutation des Professor Wieler

RKI-Präsident im Porträt : Die Mutation des Professor Wieler

In den bald zwei Jahren der Pandemie ist RKI-Präsident Lothar Wieler zu einem der wichtigsten Corona-Erklärer im Land geworden. Anfangs noch in ruhigem Ton dröselt er die Daten- und Faktenlage auf. Doch mit jeder neuen Viruswelle wurden Wielers Warnungen drastischer. Von der Wandlung eines Mannes, der sich seine Rolle nicht ausgesucht hat.

Jede Woche das gleiche Ritual. Lothar Wieler sitzt neben dem Bundesgesundheitsminister vor der blauen Wand der Bundespressekonferenz. Die Journalisten fragen, der Präsident des Robert-Koch-Instituts stellt sich. Die hohen Inzidenzen, die gefährliche Virusvariante, die zu große Impflücke, die Kinder, die Alten, die Fußballspiele, die Silvesterpartys – Herr Wieler, wie soll das nur alles werden?

Es sind nicht nur unablässige Fragen, die auf Lothar Wieler während der Coronavirus-Pandemie einprasseln. Es sind auch Erwartungen, Befürchtungen, Sorgen. Ganz so, brauche die deutsche Öffentlichkeit in dieser zehrenden Zeit zumindest einen, der Überblick und Orientierung bewahrt. Wieler hat sich diese Rolle nicht ausgesucht. Aber er hat sie angenommen. Bei den allwöchentlichen Pressekonferenzen vor der Hauptstadtpresse beantwortet er alle Fragen für gewöhnlich in ruhigem, sanftem Ton. Nach bald zwei Pandemiejahren dürfte wohl jeder die Stimme des vordersten Corona-Erklärers im Land im Ohr haben.

Freilich, auch der frühere und der amtierende Gesundheitsminister, Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD), sind zu nationalen Pandemieerklärern geworden, allerdings mit Parteibuch. Mit jeder Maßnahme im Krisenmanagement sollen auch politische Erfolge heimgefahren werden. Wieler ist frei von solcher Polittaktik. Mit dem RKI steht der 60-Jährige zwar einer Bundesbehörde vor, die dem Ministerium unterstellt ist. Doch er hat gezeigt, dass er vor klaren Ansagen in Richtung Politik nicht zurückschreckt, auch wenn der Minister neben ihm sitzt.

Als im April dieses Jahres, mitten in der dritten Corona-Welle, die Maßnahmen in einigen Bundesländern gelockert wurden, warf er den politischen Entscheidern vor, ihrer Verantwortung nicht gerecht zu werden. „Unter diesen Umständen bedeuten Lockerungen nicht, dass die Menschen nun einem niedrigeren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Es bedeutet viel mehr, dass die Verantwortungsträger die Verantwortung der Pandemiebewältigung nun auf die Einzelnen abgeben“, sagte Wieler am 10. April. Es war ein erster Vorschmack darauf, dass die sanfte Stimme auch scharfe Töne kennt.

Nicht immer waren die Sätze des RKI-Chefs so klar. Oft jonglierte er mit komplexen Daten, verlor sich manches Mal in epidemiologischen Details. Wieler ist Wissenschaftler, kein Kommunikationsexperte – das wurde in solchen Momenten deutlich. Er hat Veterinärmedizin studiert und sich zu Infektionskrankheiten und der Hygiene der Tiere habilitiert. Bevor er 2015 die RKI-Leitung übernahm, war er 17 Jahre lang als Professor für Mikrobiologie und Tierseuchenlehre an der Freien Universität Berlin tätig. Das wissenschaftliche Arbeiten und Sprechen hat er tief verinnerlicht.

Doch die Pandemie gab Wieler genug Gelegenheit zu lernen. Insgesamt 38 Mal war er bisher in der Bundespressekonferenz zu Gast, um die Corona-Lage zu erklären, 36 Mal davon mit Ex-Minister Spahn. Seit der gemeinsamen Premiere am 2. März 2020 hat Wieler die Bildsprache für sich entdeckt. Er hielt Kurvenverläufe und bunt eingefärbte Landkarten in die Kameras – je dunkler das Rot, desto höher die Inzidenz in der jeweiligen Region. Mittlerweile ist ein großer Teil der Landesfläche pink für Inzidenzen ab 500, manche Flecken auch violett ab 1000. Wieler verglich die Pandemie mit einem „prall gefüllten Luftballon, den wir zusammen unter der Wasseroberfläche halten“. Die Kraft, die es dazu braucht, sind die beschränkenden Maßnahmen. Man müsse den Ballon weiter unten halten, er dürfe nicht unkontrolliert hochschießen, sagte Wieler. Das war Anfang Mai, beim Auslaufen der dritten Corona-Welle.

Dann kam der Herbst und mit ihm die vierte Welle. Wielers Bilder wurden drastischer, der sanfte Ton war dahin. „Wäre die Coronapandemie in Deutschland ein Tanker, dann führe dieser gerade mit voller Kraft auf die Kaimauer zu“, sagte der RKI-Chef am 26. November. Noch könne man könne das Ruder herumreißen. Es wäre der Weg, „der das Gesundheitssystem entlastet und vielleicht ein friedliches Weihnachtsfest ermöglicht und auch noch viel mehr Menschen am Weihnachtstisch sitzen lässt“. Aus Wieler sprach die blanke Ernüchterung über die kraftlose Steuerung in der Pandemiebewältigung.

Nicht nur seine Sprache, auch sein Verhältnis zu dem ihm vorgesetzten Minister hat sich gewandelt. Beim letzten gemeinsamen Auftritt von Spahn und Wieler am 3. Dezember wurden beide gefragt, ob sie einander vermissen werden. Nachdem Spahn wortreich geantwortet und erklärt hatte, dass er die Zusammenarbeit mit Professor Wieler „natürlich“ vermissen werde, sagte dieser nur knapp: „Weiß ich nicht. Werden wir dann sehen.“ Man wisse ja erst, was man vermisst, wenn man es nicht mehr habe. Wieler ließ keinen Zweifel mehr daran, dass seine Zuneigung zu Spahn begrenzt ist.

Auch das Zusammenspiel mit dem neuen Minister hätte harmonischer beginnen können. Wenige Stunden vor der letzten Ministerpräsidentenkonferenz vor Weihnachten forderte das RKI weitergehende Schritte, die „sofort beginnen“ müssten, darunter „maximale Kontaktbeschränkungen“, um gegen die drohende Omikron-Welle gewappnet zu sein. Während Lauterbach noch versuchte, die neuen Beschlüsse zu rechtfertigen, waren Wieler und sein Institut schon vorgeprescht. Ein gut abgestimmtes Vorgehen sieht anders aus.

Doch es fügt sich ins Bild, dass Wieler zunehmend die Zurückhaltung verloren hat, je länger die Pandemie andauert. Seit bald zwei Jahren erklärt er, berät, warnt – und doch droht die fünfte Viruswelle. „Ich bin schon lange ein Papagei“, sagte Wieler in Anspielung auf seinen Corona-Erklärer-Kollegen Christian Drosten. Der Virologe von der Berliner Charité hatte in einem Interview gesagt, er wolle nicht zum Papagei werden, der immer dieselbe Botschaft verbreitet. Bei Wieler mag man zwischenzeitlich den Eindruck gehabt haben, jetzt schmeißt er hin. Doch noch immer kommt er vor die blaue Wand in der Bundespressekonferenz und stellt sich den Fragen der Journalisten. Die Minister neben ihm wechselten. Er blieb.