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100 Tage Brexit: Der „No Deal“ ist nicht vom Tisch

100 Tage Brexit : Der „No Deal“ ist nicht vom Tisch

100 Tage nach dem Handelsvertrag zwischen der EU und Großbritannien fällt die Bilanz bitter aus – das Europaparlament verschiebt die Ratifizierung. Ein Scheitern hätte massive Folgen.

100 Tage haben gereicht, um aus einstigen Partnern erbitterte Widersacher zu machen. Als an Heiligabend 2020 endlich das Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union stand, ahnte niemand, dass die bis dahin schon angespannten Beziehungen binnen kurzer Zeit in eine neue Rivalität münden würden.

„Ein Handelsabkommen kann nicht eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt und in der Zollunion ersetzen. Das ist in den ersten Wochen deutlich geworden“, sagte der Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister (CDU), am Freitag gegenüber unserer Zeitung. „Statt eines reibungslosen Handels wie zuvor, gibt es nun Hindernisse, die es jahrzehntelang nicht gab.“ 

Zehn Millionen zusätzliche Formulare

Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) belegte den entstandenen Ärger: Allein die deutschen Unternehmen, die Waren und Dienstleistungen nach Großbritannien exportieren, erleben eine bürokratische Explosion, weil jährlich rund zehn Millionen zusätzlicher Formulare für die Ausfuhr ausgefüllt und eingereicht werden müssen.

Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der deutsch-britischen Industrie- und Handelskammer, sprach bereits Anfang Februar davon, dass sich Geschäftsbeziehungen mit der Insel für kleinere Unternehmen angesichts der diversen Zusatzkosten „nicht mehr lohnen“.

Auch Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europäischen Parlamentes und frühere Bundesjustizministerin, zieht eine miserable Bilanz. Gegenüber unserer Zeitung sagte sie: „Die wirtschaftlichen Befürchtungen haben sich bestätigt. Laut EU-Statistikamt sind die EU-Exporte in das Vereinigte Königreich im Januar im Vergleich zum Vormonat um mehr als 30 Prozent gesunken, die Importe aus dem Vereinigten Königreich sogar um fast 60 Prozent. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen haben mit den neuen Regeln zu kämpfen.

Das volle Ausmaß des wirtschaftlichen Schadens des Austritts wird jedoch erst in einigen Jahren klar sein, auch aufgrund der parallelen Auswirkungen der Covid-Pandemie. Die Kommission rechne laut ihrer jüngsten Prognose damit, dass der Austritt das Vereinigte Königreich bis Ende nächsten Jahres knapp 45 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung kosten wird.

Hinzu kamen Sticheleien vor allem von der Seite Londons. Das begann mit der Weigerung der britischen Regierung, dem EU-Botschafter in London die volle diplomatische Anerkennung zu gewähren. Dann folgte die propagandistische Dauerschlacht um den Impfstoff von Astrazeneca, den London aus den EU-Produktionsstandorten bezog, ohne auch nur eine Ampulle aus britischer Herstellung nach Europa zu lassen.

Wirklich zufrieden war mit dem Handelsvertrag vom Ende des vergangenen Jahres niemand. Barley: „Viele Fragen sind trotz des Austrittsabkommens nicht geklärt. So hat die britische Regierung Übergangsbestimmungen zum Handel mit Nordirland im Austrittsabkommen ohne Absprache mit der EU einseitig verlängert. Die Kommission hat daher bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Vereinigte Königreich eingeleitet.“

Tatsächlich wurde die Umsetzung der einzelnen Schritte von London um sechs Monate verschoben. So greifen die neuen Regeln für die Einfuhr von Produkten tierischen Ursprungs erst ab Oktober. Der Schritt hat Folgen: „Wenn die britische Regierung einzelne Verpflichtungen aus dem Nordirland-Protokoll einseitig aufkündigt, untergräbt das wertvolles Vertrauen. Im Europäischen Parlament werden diese Entwicklungen sehr genau registriert. Die Entscheidung, wann das Plenum über das Handels- und Kooperationsabkommen abstimmt, wurde noch nicht getroffen“, sagt McAllister.

Genau genommen gilt der gefeierte Deal also nur vorläufig – ein Rückfall ist durchaus denkbar. Schon warnen erste Volksvertreter vor einer No-Deal-Situation, sollte der Vertragstext nicht bis Ende April ratifiziert sein. Die Wenigsten glauben daran, dass das zu schaffen ist. Für die Beziehungen zwischen London und den 27 EU-Staaten könnte das gravierende Folgen haben.