1. Politik

Aachen/Straßburg: Blick in die Zukunft: „Europa ist nicht so schlecht wie sein Ruf!“

Aachen/Straßburg : Blick in die Zukunft: „Europa ist nicht so schlecht wie sein Ruf!“

Die Vereinigten Staaten verhängen Strafzölle gegen die Europäische Union. Die wiederum sieht sich gezwungen mit Gegenmaßnahmen zu antworten. Es ist nur ein Thema von vielen, das im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg thematisiert wurde.

Hinzu kommen Debatten über die von Emmanuel Macron angestrebte „Neugründung“ der EU und Günther Oettingers Entwurf für den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR). Außerdem stehen in einem Jahr Neuwahlen an und vorher soll so manche Richtlinie noch durchgepeitscht werden. Die Agenda der Abgeordneten ist voll. Die Shadow-Meetings, Plenarreden und Fraktionstreffen ziehen sich bis 23 Uhr. Im Interview mit Annika Thee spricht Sabine Verheyen (CDU), Aachener Abgeordnete der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, über turbulente Zeiten, die größten Herausforderungen und das Europa der Zukunft.

Frau Verheyen, als Koordinatorin im Ausschuss für Kultur und Bildung freuen Sie sich sicherlich darüber, dass im Entwurf zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU (MFR) zusätzliche Mittel für Erasmus+ und Interrail vorgesehen sind. Woher kommt das Geld dafür?

Verheyen: Zurzeit können nur 20 Prozent der förderfähigen Anträge tatsächlich gefördert werden. Da muss mehr Geld reingesteckt werden. Die meisten Mitgliedstaaten sehen ohne Zweifel, dass im Bildungsbereich etwas getan werden muss.

Im Haushaltsentwurf der Kommission ist eine Verdopplung des Budgets vorgesehen. Wobei das eigentlich nur den Status Quo der vergangenen drei Jahre aufrechterhält. Unser Ziel ist es, darüber hinaus noch weitere Mittel zu bekommen. Zumindest so viel, dass das Interrail-Ticket aus einem zusätzlichen Budget bezahlt wird. Es darf nicht zulasten des Erasmus+ gehen.

Wie sieht die Bereitschaft aus, dafür die Agrarsubventionen zu kürzen?

Verheyen: Die müssen wir sowieso kürzen, um Geld zu sparen, das durch den Brexit langfristig fehlt. Günther Oettinger hat vorgeschlagen, die Hälfte der fehlenden acht Milliarden Euro mit Einsparungen zu füllen. Die andere Hälfte sollen die verbliebenen Mitgliedstaaten zahlen. Mit einer Erhöhung der Mitgliedsbeiträge auf bis zu 1,14 Prozent des BIP können wir gut leben, das ist prozentual weniger als vor der Finanzkrise 2008. Die Frage ist, ob die Mitgliedstaaten damit leben können, denn absolut sind die Beiträge dann höher. Aber wir haben auch immer mehr Aufgaben, die erfüllt werden sollen.

Welche Aufgaben sind das?

Verheyen: Wir wollen mehr in Bildung investieren, wir wollen den gemeinsamen Außengrenzschutz aufbauen, die Sicherheitskooperation soll verbessert werden. Wie EU-Kommissionspräsident Juncker vor dem Plenum erneut betont hat, soll auch die Vergabe der Strukturfördermittel angepasst werden.

Die Vergabe soll an rechtsstaatliche Standards geknüpft werden. Halten Sie die Umsetzung für realistisch?

Verheyen: Im Parlament sind wir uns einig. Wir brauchen Instrumente, mit denen wir sanktionieren können, wenn jemand die Rechtsstaatlichkeit nicht beachtet. Bisher haben wir wenige Möglichkeiten, ohne direkt die großen Keulen wie den Stimmrechtsentzug herauszuholen. Wenn wir aber finanzielle Möglichkeiten hätten, um darauf zu achten, dass die Mittel korrekt ver- und ausgegeben werden, würde das enorm helfen. Das Problem ist aber, dass der Haushalt nur einstimmig verabschiedet werden kann. Die Frage ist, was die Mitgliedstaaten machen.

Wie kann die EU handlungsfähiger werden?

Verheyen: Manchmal ist es frustrierend, zu wissen, dass ein bestimmter Schritt notwendig ist, der aber durch die Blockade einzelner nicht zustande kommt. Ich würde mir wünschen, bei großen institutionellen Fragen wie Außenpolitik oder Haushalt von dem Einstimmigkeitsprinzip im Rat wegzukommen.

Wenn ein einziger Mitgliedstaat im Rat Entscheidungen blockiert wird immer vom Versagen der EU gesprochen. Das frustriert mich sehr, denn es ist eigentlich ein Versagen der rein auf ihre nationalen Bedürfnisse orientierten Staatschefs.

Der Träger des Aachener Karlspreises, Emmanuel Macron, hat seine Vision zur „Neugründung“ Europas präsentiert. Wie stehen Sie zur Forderung nach einer stärkeren Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik?

Verheyen: Die ist absolut richtig. Ob das im ersten Schritt direkt eine europäische Armee sein muss, wage ich zu bezweifeln. Man muss zunächst schauen, dass man stärker zusammenarbeitet. Wir haben ein grundsätzliches Problem, wenn es darum geht, Entscheidungsstrukturen zu schaffen. In Frankreich entscheidet der Präsident über Einsätze, in Deutschland das Parlament.

Wir müssen über gemeinsame Entscheidungsstrukturen, ähnlich wie bei der NATO nachdenken, besonders wenn es um gemeinsame Auslandseinsätze geht. Gemeinsame Panzer und gemeinsame Waffensysteme sind ein erster wichtiger Schritt.

Die Europäische Union ist auf den Werten eines liberalen Weltordnungsmodells aufgebaut, geprägt durch die Ideale der Freiheit und des Freihandels. Weicht dieses Denken zunehmend einer realpolitischen Einstellung?

Verheyen: Wir müssen uns auf Dauer warm anziehen. Attacken, aus Russland oder aus anderen Staaten, kommen nicht nur in militärischer Form. Das Internet wird als Plattform für Propaganda genutzt, um politisch Stimmung zu machen und zu destabilisieren. Für Putin ist Liberalismus doch ein Schimpfwort.

Das bringt uns also in manchen außenpolitischen Fragen nicht weiter. Wir müssen mit Taten antworten, beispielsweise wenn Trump Strafzölle gegen die EU verhängt, sonst wird die EU nicht mehr ernst genommen. Wir müssen neue Impulse setzen, wenn wir im weltweiten Kontext langfristig Schlagkraft in der EU haben wollen.

Macron fordert auch eine verstärkte Partnerschaft mit Afrika.

Verheyen: Das ist ganz wichtig. Wenn wir Migrationsbewegungen eindämmen wollen, müssen wir gegen die Ursachen kämpfen. Die liegen in den schlechten Lebensbedingungen in afrikanischen Staaten. Deshalb muss man dort stärker investieren. Es ist eine Verantwortung die wir haben. Ein Großteil unseres Wohlstandes ist mit darauf aufgebaut, dass die europäischen Staaten über Jahrzehnte und Jahrhunderte Afrika ausgebeutet haben. Und wir müssen schauen, dass die afrikanischen Staaten auf den richtigen Weg kommen.

Wünschen Sie sich eine gestärkte Rolle Deutschlands und Frankreichs als Impulsgeber der EU?

Verheyen: Es ist wichtig, wieder eine starke Achse zu bilden. Frankreich und Deutschland werden aber alleine Europa nicht zusammenhalten und nach vorne bringen können. Wir müssen auch die Osteuropäer mit ins Boot holen.

Macron hat transnationalen Wahllisten vorgeschlagen, um den europäischen Gedanken zu stärken.

Verheyen: Davon halte ich gar nichts. Für mich ist es wichtig, dass ein Abgeordneter den Bezug zur Bevölkerung hat. Die Stärkung europäischer Parteistrukturen und auch europäischer Spitzenkandidaten ist da zielführend. Macron ist da aber gegen. Ich habe das Gefühl, dass seine Vorschläge damit zu tun haben, dass Macron keine wirkliche Partei hat, er als Staatschef aber gerne mitmischen möchte. Er würde gerne die Leute, die er handverlesen auswählt, auf seine transnationale Liste setzen. Das hat für mich nichts mit Demokratie zu tun, sondern mit Machtaufbau. Bei diesem Punkt übe ich die meiste Kritik an Macron.

Muss sich für mehr Akzeptanz die EU ändern oder das Bild von Europa in den Köpfen der Bürger?

Verheyen: Sowohl als auch. Europa ist nicht so schlecht wie sein Ruf. Wir machen hier gar nicht so viel verkehrt, wie es in den Köpfen der Bürger ankommt. Aber wir machen etwas bei der Kommunikation der Themen verkehrt. Das was hier passiert, muss den Bürgern besser vermittelt werden. Es gibt ein enormes Informationsdefizit darüber, was Europa tatsächlich zu verantworten hat und was nicht. Europa hat viel Gutes gebracht, dass für uns inzwischen selbstverständlich ist und nicht mehr als europäischer Mehrwert angesehen wird.

Ist es nicht auch Aufgabe der Abgeordneten, dieses Bewusstsein zu schärfen?

Verheyen: Im Europäischen Parlament sitzen 96 deutsche Abgeordnete. Wir tun so viel, wie wir können. Ich turne alleine in einem Bereich, den sich 15 Bundestags- und Landtagsabgeordnete alleine aus meiner Partei teilen. Die Frage ist also, was leistbar ist. Ein Grundinteresse der EU muss schon in jungen Jahren geweckt werden. Es muss in den Schulen zum Pflichtfach werden.

Trotzdem gibt es auch Probleme. Welche halten Sie für besonders dringlich?

Verheyen: Die großen Themen sind Migration, Terrorismusbekämpfung und der Schutz der europäischen Außengrenzen.

Ist nicht die zunehmende Europaskepsis in den Mitgliedstaaten eine ebenso starke Bedrohung?

Verheyen: Das ist auch ein Problem. Aber man muss stark in die Analyse reingehen, um zu verstehen, woher dieser Unmut kommt. Beispiel Italien: Ist es wirklich die EU, die die Menschen enttäuscht hat, oder ist es die Korruption und die Missstände im eigenen Land.

Wir haben viele Herausforderungen, die aus der Globalisierung, aus der Digitalisierung und den Veränderungen in der Gesellschaft auf uns zukommen. Die nationalistischen Bewegungen in vielen Mitgliedstaaten sind der Versuch, einfache Antworten auf eine immer komplexer werdende Welt zu geben. Einfach heißt aber nicht immer richtig. Stattdessen müssen wir auf europäischer Ebene Antworten auf Probleme finden, die wir nicht mehr national lösen können.

Wollen Sie mehr Europa?

Verheyen: Mehr Europa an den richtigen Stellen. Natürlich unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Dafür brauchen wir aber auch die Kompetenz, über diese neuen Politikbereiche entscheiden zu dürfen. Das scheitert aber häufig am Willen der Mitgliedstaaten, die EU mit eben diesen Kompetenzen auszustatten. In den Köpfen der Regierungsvertreter und der nationalen Parlamentarier muss sich noch einiges ändern.