Israelischer Historiker Ilan Pappe : „Apartheid? Der Vorwurf ist keineswegs überzogen“
Aachen Der israelische Historiker Ilan Pappe übt scharfe Kritik am Umgang seines Staates mit den Palästinensern. Am kommenden Montag referiert er in Aachen.
Er ist einer der streitbarsten und umstrittensten Historiker Israels. Seit Jahrzehnten versucht Ilan Pappe die Sicht der Palästinenser auf den Nahostkonflikt zu beschreiben und zu vermitteln. Warum er das macht, wie er die Lage in seiner Heimat einschätzt und welche Perspektiven er für die Region sieht, darüber sprach unser Redakteur Joachim Zinsen mit dem Wissenschaftler.
Herr Pappe, warum nehmen Sie als jüdischer Israeli die Perspektive des vermeintlichen Feindes ein?
Ilan Pappe: Es ist die Pflicht eines Menschen, der in einer Komfortzone lebt, diejenigen nicht zu vergessen, denen es nicht so gutgeht. Als Historiker habe ich erkannt, welchen Preis die Palästinenser für meine Komfortzone bezahlt haben. Entscheidend ist aber auch die eigene Geschichte und die moralische Einstellung. Als Sohn zweier deutscher Juden, die viele ihrer Familienmitglieder im Holocaust verloren haben, konnte ich dem Leiden der Palästinenser nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil es zu einem großen Teil von meinem eigenen Volk, von meiner Gesellschaft und von meinem Staat verursacht wurde.
Sie gelten als ein Unterstützer der BDS-Bewegung, die zum Boykott Israels aufruft. Die israelische Regierung und Stimmen in Deutschland nennen die Bewegung antisemitisch. Sind Sie ein Antisemit?
Pappe: Ich kann kein Antisemit sein. Ich kann vielleicht ein selbsthassender Jude sein, aber ich hasse mich nicht. Im Ernst: BDS ist nicht antisemitisch, deshalb unterstützen so viele Juden in der Welt die Bewegung. Sie richtet sich in keiner Weise gegen das Judentum. Es ist eine Bewegung, die sich gegen Rassismus, Kolonialismus und Apartheid wendet, die Israel vielen Palästinensern im historischen Palästina zufügt.
Ähnlich wie Amnesty International werfen also auch Sie dem israelischen Staat vor, ein System der Apartheid etabliert zu haben. Und zwar nicht nur in den besetzten Gebieten. Ist der Vorwurf nicht überzogen?
Pappe: Keineswegs! Nachdem der inzwischen verstorbene südafrikanische Bischof Desmond Tutu Israel und Palästina besucht hatte, stellte auch er fest: Die Lage der Palästinenser innerhalb Israels ist nicht so schlimm wie die der Afrikaner im Südafrika der Apartheid, im Westjordanland und im Gazastreifen aber ist sie noch schlechter. In Teilen Israels herrscht also Apartheid, die weniger bedrückend ist als die Apartheid in anderen Teilen, die Israel kontrolliert. Jeder Palästinenser zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer lebt in der einen oder anderen Form unter Apartheid.
Lässt sich das so pauschal sagen?
Pappe: Dann mache ich es konkreter. Die palästinensischen Bürger Israels dürfen an bestimmten Orten nicht wohnen, in bestimmten Berufen nicht arbeiten und werden vom Strafsystem anders behandelt als jüdische Israelis. Sie leiden täglich unter Vorurteilen und Rassismus, der von großen Teilen des politischen Systems gefördert wird. Im Westjordanland gibt es apartheidartige Räume und Straßen, nämlich solche, die nur für Juden bestimmt sind. Der Gazastreifen wird belagert, was noch schlimmer ist als Apartheid.
Arabischstämmige Menschen mit israelischem Pass können aber wählen und als Parlamentarier in die Knesset einziehen. Wie passt das zum Apartheid-Vorwurf für das israelische Kernland?
Pappe: Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist zweifellos wichtig, aber für sich genommen noch kein Beweis für eine Demokratie. Entscheidend ist die Frage: Gibt es eine Diskriminierung bei den Grundrechten? Stellen Sie sich vor, die Stadt Aachen könnte erklären, dass jüdische Bürger aus Deutschland nicht in der Stadt leben dürften. Wäre Deutschland dann eine Demokratie? Genau dies aber ist in den israelischen Orten Afula und Yokneam gegenüber arabischstämmigen Bürgern geschehen.
In Israel urteilt ein arabischstämmiger Richter am obersten Gericht des Landes. So etwas wäre im Apartheid-System Südafrikas nicht möglich gewesen.
Pappe: Nicht jedes Apartheidsystem funktioniert genauso wie das frühere in Südafrika. Sie können einen arabischen Alibirichter im obersten Gerichtshof einsetzen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Gefängnisse voll mit palästinensischen Bürgern sind und ihr Anteil an den Insassen viel größer ist als ihr Anteil an der Bevölkerung. Eine Frau als Premierministerin in einem Land bedeutet nicht, dass Frauen dort in der Gesellschaft gleich und gerecht behandelt werden. Wenn Sie beispielsweise zum Flughafen Ben Gurion kommen, werden Sie keine palästinensischen Bürger finden, die bei der Einreisekontrolle arbeiten. Am wichtigsten ist aber etwas anderes: Die Beurteilung Israels als Demokratie kann nicht von der mehr als 50 Jahre währenden Besatzung und der Herrschaft über Millionen Palästinenser getrennt werden. Diese Menschen leben in einem Staat, der täglich über ihr Schicksal und ihre Zukunft entscheidet, ohne dass sie wählen dürfen oder gewählt werden können. Wir alle verurteilen Russland für die Besetzung von Teilen der Ukraine. Allein die Okkupation lässt bereits Zweifel an der Fähigkeit Russlands aufkommen, eine Demokratie sein zu können. Das Gleiche muss auch für Israel gelten.
Zum kollektiven jüdischen Gedächtnis gehört die Erfahrung der Shoah. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass die israelische Gesellschaft ein sehr hohes Sicherheitsbedürfnis hat und kaum Kompromissbereitschaft gegenüber den Palästinensern zeigt?
Pappe: Das zionistische Projekt, also die Kolonisierung und Besiedlung eines fremden Landes, begann lange vor der Shoah. Ebenso ist die Idee, dass die Palästinenser in Palästina Fremde sind und das Land eigentlich dem jüdischen Volk gehört, älter als die Shoah. Das Bedürfnis nach einer großen Armee und Sicherheit hat also nichts mit dem Holocaust zu tun. Es hat mit der Tatsache zu tun, dass sich der Zionismus mit Gewalt in einem anderen Land niedergelassen hat, die Hälfte der Bevölkerung dieses Landes 1948 enteignet und 1967 das gesamte Land der Palästinenser übernommen hat. Wenn man sich etwas, das einem nicht gehört, mit Gewalt nimmt, braucht man Gewalt, um es zu schützen.
Lässt sich der israelische Staat in seiner derzeitigen Form dauerhaft durch militärische Stärke sichern?
Pappe: Israel hat eine sehr starke Armee. Kurzfristig gibt es niemanden, der sie infrage stellen kann. Aber auf lange Sicht wird auch eine starke Armee keine Lösung für die anhaltende Unterdrückung von Millionen von Palästinensern finden. Zumal diese Menschen von Gesellschaften in vielen Teilen der Welt unterstützt werden. Die Palästinenser verschwinden nicht. Sie werden weiterhin für Freiheit und Befreiung kämpfen. Und obwohl sie militärisch sehr schwach sind, können ironischerweise nur sie der jüdischen Gesellschaft Israels eine Legitimität verleihen und ein Ende des Konflikts herbeiführen. Viele von ihnen sind dazu bereit, wenn sie Teil einer echten demokratischen Gesellschaft werden, die die Rückkehr der Flüchtlinge und die Abschaffung aller kolonialistischen Institutionen ermöglicht. Denn diese hindern die Palästinenser bis heute daran, als freie Menschen in ihrer eigenen Heimat zu leben.
Was haben die Jahrzehnte der Besatzung mit der palästinensischen Gesellschaft gemacht?
Pappe: Die Besatzung hat die wirtschaftliche Infrastruktur derart zerstört, dass die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist und es nur wenige Möglichkeiten der sozialen Mobilität gibt. Zudem hat sie einerseits eine Kultur des Widerstands geschaffen, die auf brutale Unterdrückung durch die Besatzer stößt. Andererseits hat die Besatzung aber auch Gewalt auf den Straßen in vielen Teilen der besetzten Gebiete erzeugt. Dass Leben dort ist abnormal. Und trotzdem sind viele Menschen dort nicht gebrochen. Die Palästinenser haben dafür den Begriff „Sumud“. Damit ist die Widerstandsfähigkeit gemeint, mit der Einzelpersonen und Bewegungen täglich die Besatzer gewaltlos herausfordern.
Es gibt aber auch Gewaltakte.
Pappe: Natürlich leisten manche auch gewaltsamen Widerstand. Den hat es in vielen antikolonialistische Bewegungen der Vergangenheit gegeben, um die Besatzung zu beenden.
In den vergangenen Wochen gab es eine ganze Serie von tödlichen Anschlägen in Israel. Trotzdem plädieren Sie für einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat. Ist das realistisch?
Pappe: Es ist der einzige Weg, die Gewalt zu beenden. Gewalt endet, wenn die Quelle der Gewalt austrocknet und nicht, wenn nur die Symptome des Problems behandelt werden. Es gibt kein Motiv für Gewalt in einem demokratischen Staat, der hoffentlich die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse vieler Bürger so gut wie möglich befriedigt. Es gibt kein Motiv für Gewalt, wenn Flüchtlinge zurückkehren können, politische Gefangene freigelassen werden, geraubtes Land zurückgegeben wird und alle Formen der Diskriminierung verschwinden. All dies kann nur in einer Ein-Staat-Lösung gewährleistet werden.
Wie tief ist die Spaltung innerhalb der palästinensischen Community? Ein Opfer der jüngsten Anschläge war ein israelisch-arabischer Polizist.
Pappe: Die meisten Palästinenser haben die gleiche Vision von einem normalen Leben, von Freiheit und Befreiung. Aber dies ist eine Vision für die Zukunft. Israel hat die Palästinenser in verschiedene Gruppen aufgespalten, die kurzfristig unterschiedliche Bedürfnisse haben und auf unterschiedliche Weise versuchen, das Leben unter Israel und dem Zionismus zu verbessern. Wäre Israel eine Demokratie, wäre es kein Problem, ein palästinensischer Polizist zu sein. Unter den gegebenen Umständen befasst sich die reguläre Polizei in der Regel mit gewöhnlicher Kriminalität und ist nicht Teil der Besatzung und Unterdrückung. Aber manchmal ist sie es eben doch. Deshalb sind nur sehr wenige palästinensische Bürger bereit, ihr beizutreten. Es handelt sich also nicht um eine ernsthafte Spaltung in der palästinensischen Gesellschaft. Die Spaltungen zwischen säkularen und religiösen Menschen ist um einiges bedeutender.
Politische Positionen wie Ihre sind in den vergangenen Jahren in Israel immer stärker an den Rand gerückt. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Pappe: Die israelisch-jüdische Gesellschaft bewegt sich immer weiter nach rechts. Viele kritische Stimmen haben das Land inzwischen verlassen. Andererseits gibt es dort in der Zivilgesellschaft eine neue Generation. Sie lässt mich hoffen, dass auch in Zukunft junge israelische Juden den Kampf für Frieden und Gerechtigkeit nicht aufgeben.
Seit Wochen beherrscht der Überfall von Wladimir Putins Armee auf die Ukraine die Debatte. Für Europa ist von einer Zeitenwende die Rede. Hat der Krieg auch Auswirkungen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt?
Pappe: Nein, überhaupt nicht. Der Krieg in der Ukraine, so schrecklich er ist, legt die Doppelmoral des Westens gegenüber verschiedenen Kriegen in der Welt offen. Die gleiche gerechtfertigte moralische Verurteilung des Angriffs und die gleichen Maßnahmen gegen den Aggressor fehlen gegenüber Israel. Arabische Flüchtlinge werden immer noch anders behandelt als ukrainische. Daher ist dieser Krieg kein Wendepunkt, der Auswirkungen auf Israel und Palästina hat.