Aachen : Welttag der Philosophie: RWTH-Professor erklärt die Wissenschaft
Aachen Heute ist Welttag der Philosophie. Damit verbunden ist der Anspruch, „dass Philosophie als Disziplin zum kritischen und unabhängigen Denken ermutigt und auf ein besseres Verständnis der Welt hinwirken und Toleranz und Frieden fördern kann“. So heißt es jedenfalls in einer Resolution der Unesco.
Dass akademisch arbeitende Philosophen diesem Anspruch gerecht werden, davon geht Wulf Kellerwessel, Professor für Philosophie an der RWTH Aachen, aus. Mit ihm sprach Peter Pappert.
Wofür brauchen wir Philosophie?
Kellerwessel: Wir brauchen sie auf jeden Fall für eine große Zahl schwerwiegender gesellschaftlicher Probleme. Zu nennen wäre beispielsweise Klimawandel, Kinderarmut, die Frage der Gerechtigkeit national wie international, die Probleme, die sich aus Flucht und Migration ergeben, die Themen der Tier-, Medizin- und Wirtschaftsethik, Technik- und Roboterethik, um nur einige zu nennen.
Technik, Automatisierung, Digitalisierung — Themen, die an der RWTH in Aachen eine große Rolle spielen. Hören Ihre Kollegen aus den anderen Fakultäten auf philosophische Maßgaben?
Kellerwessel: Für die gesamte Hochschule lässt sich das nicht beantworten. Einige nehmen das sicherlich sehr ernst. Nach meiner Erfahrung sind viele Ingenieure für ethische Fragen wesentlich sensibler, als es zumeist wahrgenommen wird. Wir bemühen uns um Kooperation.
Keine Wissenschaft hat eine so lange Tradition wie die Philosophie. Ist sie die Königin der Wissenschaften?
Kellerwessel: Schön wär’s! Aber es gibt keine Königin der Wissenschaft. Viele Wissenschaften haben sich aus der Philosophie heraus entwickelt: Mathematik und Medizin schon in der Antike, Physik im 18., Psychologie und Soziologie im 19. Jahrhundert. Wenn Sie einen Ehrentitel suchen, dann ist die Philosophie vielleicht eher Mutter oder Vater der Wissenschaften.
Der Begriff Philosophie lässt sich übersetzen mit Liebe zur Weisheit. Wie heiß oder lau ist diese Liebe heute über die wissenschaftliche Zunft hinaus?
Kellerwessel: Das ist schwer zu sagen. Einzelne Autoren schreiben sehr populär über Philosophie; ihre Bücher werden gut verkauft. Die Liebe ist offensichtlich etwas wärmer geworden. Wer ethisch argumentiert, weiß manchmal gar nicht, dass er Philosophie betreibt. Mit der These, dass jeder Mensch ein Philosoph sei, wäre ich aber sehr vorsichtig.
Die Philosophie soll dazu anhalten, nachzudenken, sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden zu geben. Sie ist also kompliziert.
Kellerwessel: Ja, das glaube ich schon. Einfache Antworten berücksichtigen oft nicht angemessen die besonderen Spezifika bestimmter Situationen oder sind undifferenziert, möglicherweise ideologisch beeinflusst. Die Philosophie will alle Überlegungen einbeziehen und überprüfen. Ein guter Philosoph wägt für ein relevantes Themengebiet nach Möglichkeit alle Optionen, Alternativen und Argumente ab. Das ist kompliziert.
Die Philosophie stellt immer wieder die gleichen Fragen.
Kellerwessel: Wir stellen zum Teil die gleichen Fragen, die Platon schon gestellt hat. Die Angewandte Philosophie stellt aber viele neue Fragen: Ist ärztlich assistierter Suizid zulässig oder nicht? Das Internet und der Einsatz von Drohnen stellen uns vor neue Herausforderungen. Auch heute gibt es Kantianer, religiös geprägte Philosophen, die sich an Thomas von Aquin orientieren, in der Praktischen Philosophie gibt es eine Neubesinnung auf Aristoteles. Gesucht werden neue Antworten, die auf alten aufbauen. Auf jeden Fall behandelt die Philosophie sehr viel mehr Fragen als früher.
Die Philosophie sucht nach dem letzten Sinn, nach den Ursprüngen des Denkens und des Seins. Sie stellt also metaphysische Fragen. Steht sie der Theologie nahe?
Kellerwessel: Das lässt sich so allgemein nicht beantworten. Der Begriff Metaphysik hat sich in der Philosophie-Geschichte stark verändert. Es gibt Philosophen, die der Religion oder Theologie nahestehen, andere befassen sich — ohne diese Nähe — im traditionellen Sinne mit Metaphysik, und es gibt jene, zu denen ich mich zähle, die mit der traditionellen Metaphysik gar nicht mehr produktiv umgehen und versuchen, andere Fragen, kleinere Fragen gut zu beantworten, statt große Systeme zu entwerfen.
Aber Berührungen mit der Theologie gibt es schon.
Kellerwessel: Es gibt in der Praktischen Philosophie, in der Ethik Überschneidungen. Wir kommen oft zu ähnlichen Antworten — aber aus unterschiedlichen Gründen. Internationale Gerechtigkeit ist zum Beispiel ein großes gemeinsames Thema, bei dem wir häufig zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Für viele heutige Philosophen spielt Religion überhaupt keine Rolle mehr.
Jürgen Habermas, der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ und maximalen Agnostiker ohne metaphysisches Gepäck bezeichnet hat, beschäftigt sich intensiv mit Religion und deren Bedeutung in der heutigen Welt und rät, die Stimme der Religion ernstzunehmen und Glaubensüberzeugungen in öffentlichen Debatten zu berücksichtigen.
Kellerwessel: Wir müssen unbedingt einbeziehen, dass viele Menschen religiös geprägt sind — durch unterschiedliche Religionen, verschiedene Konfessionen und unterschiedlich intensiv. Eine wichtige Frage ist, wie religiöse und nichtreligiöse Menschen in einer modernen pluralistischen Gesellschaft so zusammenleben, dass sie gut miteinander auskommen. Das hat Habermas im Auge. Religiöse und nicht religiöse Menschen sollen sich nicht gegenseitig ihre jeweilige Lebensform aufzwingen. Da gibt es viel Gesprächsbedarf; wir haben also viel zu tun.