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Region: Loveparade-Tragödie: „Warum starben unsere Kinder?“

Region : Loveparade-Tragödie: „Warum starben unsere Kinder?“

Julius Reiter wirkt angespannt. Der prominente Opfer-Anwalt blättert am Konferenztisch seines Büros hastig in Gerichtsakten. In seiner noblen Kanzlei gegenüber von Schloss Benrath im Düsseldorfer Süden bereitet sich der 53-jährige Advokat auf den mutmaßlich größten Strafprozess in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte vor.

Sieben Jahre nach der Tragödie bei der Duisburger Loveparade wird das örtliche Landgericht ab kommendem Freitag gegen zehn Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung verhandeln. Es sind Mitarbeiter der Stadt Duisburg und der Veranstalterfirma Lopavent, die auf der Techno-Party durch grobe Pflichtverletzungen eine Massenpanik ausgelöst haben sollen. Dabei wurden 21 Menschen getötet und 652 Besucher verletzt.

111 Termine, 500 Beobachter

Das bereits auf 111 Verhandlungstage bis Ende 2018 terminierte Mammutverfahren wird in der benachbarten Landeshauptstadt stattfinden. Ein Kongresszentrum auf dem Düsseldorfer Messegelände wird zum Gerichtssaal umgebaut, damit das Heer der Prozessbeteiligten ausreichend Platz findet. Hier werden nicht nur das Gericht, die Staatsanwälte und die zehn Angeklagten mit ihren 29 Anwälten sitzen. Zudem sind 60 Opfer und Hinterbliebene samt ihrer Prozessvertreter als Nebenkläger in dem Loveparade-Prozess zugelassen. Schließlich soll der Zuschauerraum an jedem Verhandlungstag mehr als 500 Besuchern und Medienvertretern Platz bieten.

„Für alle Beteiligten wird das der größte Strafgerichtsprozess ihres Lebens“, vermutet Reiter. Seit sieben Jahren betreut der Anwalt Hinterbliebene und Geschädigte der Loveparade-Katastrophe. In dieser Zeit sind die Prozessakten auf über 60.000 Blatt angewachsen (ohne Asservaten- und Beweismittelordner). Für den Kanzleipartner des ehemaligen Bundesinnenministers Gerhart Baum (FDP) stellt sich bei diesem Fall keine juristische Routine ein.

„Es geht einem sehr nahe, wenn die Eltern über ihre letzte Begegnung sprechen, als sich ihr Kind freudestrahlend verabschiedete und zu der großen Party fuhr“, erzählt Reiter. Bis zu 100 Loveparade-Opfer haben der Anwalt und seine Kollegen zeitweise vertreten. Im Prozess wird Reiter für elf Nebenkläger auftreten. Seine Mandanten wüssten, dass am Ende des Strafverfahrens auch eine große Enttäuschung stehen könne. „Aber sie sind froh, dass der Prozess endlich beginnt.“

Auf der Anklagebank sitzen nach Einschätzung von Reiter „relativ kleine Lichter“. Diesen Personen sei bei ihren Entscheidungen für die Genehmigung und Organisation der Loveparade aber „bewusst gewesen, dass es eine Katastrophe und Tote geben“ könne. Bei der Anklage gehe es nicht um „skrupellosen Mord“, erläutert Reiter, sondern um fahrlässige Tötung und Körperverletzung. „Solche Straftaten kann man auch vom Schreibtisch aus begehen.“

Nicht angeklagt wurden der zwischenzeitlich abgewählte Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) und der Geschäftsführer der Veranstalterfirma Lopavent, der schwerreiche Fitness-Unternehmer Rainer Schaller.

Fehler und Fallstricke

Die Einstellung der Strafermittlungen gegen diese beiden Frontmänner des Techno-Spektakels ist für den Nebenkläger „kaum nachzuvollziehen“. In Deutschland sei es vergleichsweise schwer, bei offensichtlicher Schuld eines Unternehmens die Verantwortlichen zu belangen, beklagt Reiter. „Es muss immer die individuelle Schuld nachgewiesen werden.“ In den USA würden der Veranstalter Lopavent und deren Geschäftsführung schon aufgrund des dortigen Unternehmens-Strafrechts mit ziemlicher Sicherheit zur Verantwortung gezogen.

Zu den Hauptangeklagten im Großverfahren zählt der zwischenzeitlich pensionierte Duisburger Planungsdezernent Jürgen Dressler. Ihm und fünf weiteren Rathausbeamten wirft die Staatsanwaltschaft vor, die vom Veranstalter beantragte Genehmigung für die Loveparade auf dem alten Duisburger Güterbahnhofgelände erteilt zu haben, „obwohl auch sie hätten erkennen müssen, dass die Veranstaltung wegen der schwerwiegenden Planungsfehler undurchführbar und daher nicht genehmigungsfähig war“. Den vier Lopavent-Mitarbeitern wird in der Anklage zur Last gelegt, dass es bei dem von ihnen viel zu engflächig konzipierten Zu- und Abgangssystem zum Festivalgelände „zwangsläufig zu lebensgefährlichen Situationen kommen musste“.

Die Prüfungen der Genehmigung verliefen nach den Feststellungen der Ermittler viel zu lax. Für in der Veranstaltungsspitze 445.000 Loveparade-Besucher wurde von der Stadt Duisburg eine nur 18,28 Meter breite Tunnelrampe als Ein- und Ausgang zum Festivalgelände genehmigt. Dort befanden sich laut Anklage zudem auch noch „genehmigungswidrige Zubauten“. In diesem Nadelöhr sei das Zu- und Abgangssystem „kollabiert“, sagt Oberstaatsanwalt Michael Schwarz.

Die tödliche Massenpanik am 24. Juli 2010 wird in der Anklageschrift im nüchternen Buchhalterstil beschrieben: „Zahlreiche Besucher strömten aus verschiedenen Richtungen unkontrolliert auf die östliche Rampe. Zwischen 16.30 und 17.15 Uhr drängten sich in diesem Bereich mehrere zehntausend Personen. Der immense Druck in dieser Menschenmenge führte zu den genannten Todesfällen und Verletzungen.“ In dem Katastrophentunnel seien „zu viele Menschen auf zu engem Raum“ gewesen, urteilt Oberstaatsanwalt Horst Bien.

Die Angeklagten weisen die Anklagevorwürfe rundum zurück. Sieben Jahre haben ihre Anwälte mit allen juristischen Finessen gegen die Zulassung der Anklage gekämpft. Zunächst erfolgreich. Die zuständige Strafkammer beim Duisburger Landgericht lehnte die Eröffnung der Hauptverhandlung mangels „hinreichenden Tatverdachts“ ab. Erst nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft wies das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf die Strafrichter in Duisburg an, den zehn Angeklagten den Prozess zu machen.

Nachdem im Vorfeld etwa durch immer neue Gutachten viel Zeit verstrichen ist, droht während des Verfahrens die absolute Verjährung. Falls die Richter in dem Sondergerichtssaal nicht bis zum 27. Juli 2020 ein Urteil verkünden, müsste der Strafprozess eingestellt werden. Deshalb befürchten die Nebenklagevertreter eine Verzögerungstaktik auf Seiten der Angeklagten. Durch den Zeitdruck werde die Prozessführung für das Gericht nicht einfacher, befürchtet Opfer-Anwalt Reiter. Die Hinterbliebenen erhofften sich von dem Prozess vor allem die Beantwortung einer Frage: „Warum sind unsere Kinder gestorben?“

Im Laufe der Strafermittlungen haben sich die Nebenkläger zerstritten. Hinterbliebene Eltern gehen die Geschädigten-Fraktion der verletzten Loveparade-Besucher mitunter hefig an. „Das sind keine Opfer, sondern Täter. Die haben unsere Kinder in dem Gedränge totgetrampelt“, sagte der Vater einer getöteten Tochter zu einem der Nebenkläger-Anwälte. Sieben Jahre nach dem Unglück kämpfen Überlebende heute noch mit den Folgen der traumatischen Erlebnisse. „Einige können weiterhin nicht arbeiten und brauchen immer noch Therapien“, sagte der Vorstand der Stiftung „Duisburg 24.7.2010“, Jürgen Widera. „Manche sind ganz aus der Bahn geworfen worden und haben ihren Job verloren.“

Zudem hat der zermürbende Kampf mit der Versicherung die Opfer gespalten. Während die für den Veranstalter Lopavent eintretende Axa-Versicherung für Verletzte der Katastrophe laut Anwälten „bis zu sechsstellige Summen“ auszahlte, wurden einem Elternpaar für den Tod seines Kindes lediglich 2000 Euro angeboten. Schmerzensgeldansprüche getöteter Menschen könnten nicht vererbt werden, teilte die Axa den Hinterbliebenen mit. „Grundsätzlich ist nur der unmittelbar Geschädigte ersatzberechtigt.“ Statt der angebotenen Kulanzzahlung von 2000 Euro fordern die Anwälte der Eltern eine halbe Million von der Versicherung. Darüber werden die zuständigen Zivilgerichte aber vermutlich erst nach einem Urteil in dem Düsseldorfer Strafprozess entscheiden.

Im Vorfeld der Hauptverhandlung hat es bereits einige Turbulenzen gegeben. Nach der von der Staatsanwaltschaft erst auf dem Beschwerdeweg beim OLG durchgesetzten Anklagezulassung hatten zwei Nebenkläger-Anwälte Haftbefehl gegen den Duisburger Baudezernenten Dressler beantragt. Der pensionierte Beamte hatte öffentlich angekündigt, seinen Altersruhesitz nach Namibia zu verlegen. Dennoch sah die 5. Große Strafkammer am örtlichen Landgericht keine Fluchtgefahr. Schließlich habe der Hauptangeklagte seinen Umzug selbst angezeigt und „ein beachtliches Eigeninteresse, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe gerichtlich geklärt werden“.

Je näher die Hauptverhandlung rückte, desto mehr Schöffen mussten wegen „Besorgnis der Befangenheit“ oder Erkrankung entpflichtet werden. Bei einer Schöffin fiel dem Gericht auf, dass sie bei der Stadt Duisburg beschäftigt war. Eine weitere Ergänzungsschöffin hatte ein Attest über „psychische Probleme“ vorgelegt. Für das Gericht ein „ernsthafter Hinderungsgrund“. Zuvor war bereits einer der beiden Hauptschöffen aufgrund einer Selbstanzeige abgelehnt worden. Wenige Wochen nach dem Loveparade-Unglück hatte er in einer Zeitung mit Blick auf Verwaltung und Veranstalter erklärt, hier seien „Dilettanten am Werk“ gewesen. Deshalb müssten „Köpfe rollen“ und „die ganze Bande weg“. Die Entbindung der drei Schöffen zeigt, welche juristischen Fallstricke in dem Verfahren für das Gericht lauern.

Eine parlamentarische Aufarbeitung des Loveparade-Unglücks ist nie erfolgt. Damals war eine rot-grüne Minderheitsregierung frisch ins Amt gekommen, die ebenso wenig Aufklärungsinteresse zeigte wie die Opposition. Die Genehmigung und die Polizei-Einsatzpläne stammten aus der schwarz-gelben Regierungszeit. Während Rot-Grün den unter Beschuss geratenen Innenminister Ralf Jäger (SPD) im Amt halten wollte, befürchteten CDU und FDP, in einem U-Ausschuss womöglich von ihrer politischen Vergangenheit eingeholt zu werden. „Das war damals ein Fehler von uns“, bekennt der heutige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU).

Keine politische Aufklärung

Für die Nebenkläger ist schwer nachvollziehbar, warum nun kein einziger Polizist auf der Anklagebank sitzt. Der damalige NRW-Innenminister Jäger habe sich „sofort schützend vor seine Polizei gestellt“, kritisiert Anwalt Reiter. Somit sei verhindert worden, „wichtige Lehren aus der Katastrophe“ für die weitere Polizeiarbeit zu ziehen. Bei den Massenübergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015 hätten sich die Organisationsfehler und Versäumnisse von der Loveparade dann auf tragische Weise wiederholt: „mangelhafte Kommunikation, zu wenig einsatzbereite Polizisten, allgemeine Überforderung und fehlende Handlungsstrategie“, beklagt Reiter. „Es gab keinen Plan B für den Fall, dass etwas passiert.“

Etliche Opfer sind durch die jahrelangen Strafermittlungen zermürbt. Entnervt entzog die bei der Massenpanik verunglückte Nebenklägerin Janine M. Mitte Oktober ihrer Anwältin das Mandat. „Ich möchte im Strafprozess zur Loveparade nicht als Nebenklägerin auftreten, da ich endlich mit der Sache abschließen möchte“, schrieb Janine M. an das Duisburger Landgericht. Die dauernde Gerichtspost zum Strafverfahren wecke bei ihr jedes Mal schlimme Erinnerungen. „Ich bitte Sie inständig, mich als Nebenklägerin zu streichen.“