Corona-Pandemie : Das Drama in den Pflegeheimen
Düsseldorf Am Freitag meldet das RKI 1113 Todesfälle in Deutschland binnen eines Tages. Die hohen Todeszahlen sind das Ergebnis des unkontrollierten Infektionsgeschehens vor Weihnachten. Neue Mutationen verschärfen die Lage womöglich noch. Ein Überblick.
Es sind die hohen Inzidenzzahlen in den einzelnen Kreisen und Städten, die jedes Mal Alarmstimmung auslösen. Ob im sächsischen Landkreis Saalfeld-Rudolfstadt mit seinen zuletzt wöchentlich 600 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern oder im Oberbergischen Kreis mit dem Inzidenzwert von immerhin 202, immer setzt eine breite Diskussion über weitere Verschärfungen, Begrenzung des Aktionsradius und anderes mehr ein. Aus dem Blick gerät dabei, dass die Lage in vielen Alters- und Pflegeheimen viel dramatischer ist.
Ein Viertel der Patienten stirbt
Auf einen wöchentlichen Wert von 641 neuen Fällen pro 100.000 Menschen kommen etwa die Über-90-Jährigen in Deutschland. Das ist eine Zahl, die in keinem Kreis und in keiner Stadt erreicht wird. Und was erschwerend hinzukommt, eine Corona-Infektion endet nach neueren Studien für ein Viertel der Patienten mit dem Tod. Die sogenannte Heat-Map (Hitzebild) des Robert-Koch-Instituts (RKI), die Infektionszahlen nach Alter abbildet, ist besonders stark eingefärbt bei den über 80-Jährigen. Dort sind Inzidenzwerte von mehr als 300 keine Seltenheit. Ein Landrat oder Oberbürgermeister müsste in einem solchen Fall den Notstand ausrufen, in den Pflegeheimen bleiben die Alarmglocken still.
Von den fast 44.000 Todesfällen, die in der Corona-Krise mittlerweile in Deutschland zu beklagen sind, waren 30.000 älter als 80 Jahre, keine 400 jünger als 50. Auch wenn es verstärkt Berichte über junge Covid-Patienten auf Intensivstationen gibt, so bleiben es doch die Ausnahmefälle. Ihre Zahl steigt deshalb an, weil allgemein die Infektionszahlen, die schweren Verläufe und auch die Todeszahlen nach oben gehen.
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, findet für den hohen Anteil der Älteren unter den Opfern deutliche Worte. „Die vielen Infektionen und hohen Todesraten unter den 900.000 Pflegeheimbewohnern sind vor allem auf mangelnde Hygiene zurückzuführen“, kritisiert er. Tatsächlich gibt es immer noch keine einheitlichen Standards, wie die vielen Alters- und Pflegeheime wirksam geschützt werden können.
„Nehmen Sie die Altersverteilung der neuen Fälle. Da gehört ausgerechnet die Altersgruppe der über 80-Jährigen zur am stärksten betroffenen Gruppe“, hat auch Sebastian Binder in seinen Covid-Berechnungen herausgefunden. Der Modellierer am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) versucht, mit mathematischen Modellen die Verbreitung des Coronavirus, aber auch die Verläufe und Risiken für die einzelnen Bevölkerungsgruppen zu bestimmen. Auch er sieht die Lage in den Heimen besonders kritisch. „Wir schaffen es leider immer noch nicht, unsere Risikogruppen richtig zu schützen“, klagt der Wissenschaftler und empfiehlt vor allem so viel Tests wie möglich für die Bewohner und Besucher.
Ein anderer Wert unterstreicht noch eindringlicher, wie ernst die Lage in Deutschland ist, wo wir uns schon an tägliche Todeszahlen von mehr als 1000 gewöhnt haben. Es geht um die Übersterblichkeit. Das ist die Ziffer, die angibt, wie viel mehr Menschen als üblich in einer bestimmten Jahreszeit aus dem Leben scheiden. Danach hat die Corona-Pandemie in den ersten Monaten des vergangenen Jahres keine besonderen Ausmaße erreicht. Anders als in Italien, den USA oder Frankreich blieb die Übersterblichkeit in Deutschland eher gering. Seit Anfang November wird die Abweichung hierzulande aber ständig größer. Die Übersterblichkeit liegt inzwischen knapp ein Drittel über dem durchschnittlichen Wert der vergangenen fünf Jahre. Während vor 2020 im Schnitt rund 200 Menschen wöchentlich je einer Million Einwohner ihr Leben beendeten, sind es derzeit rund 260.
In Deutschland sterben derzeit mehr Menschen an oder durch Covid-19 im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung als in den USA. Und die wurden in der Pandemiebekämpfung als besonders nachlässig und wenig effektiv gebrandmarkt.
Die Gesundheitsbehörden in Deutschland haben ein Problem mit ihren Toten. Es sind nicht nur die vielen menschlichen Schicksale, um die es dabei geht. Es ist die überall fehlende Kontrolle über die Krankheit, die viele Experten und Wissenschaftler beunruhigt. „Bis Oktober war kaum jemand besser als wir in der Bekämpfung der Pandemie“, meinte vor Kurzem Kanzleramtsminister Helge Braun. Seit November fällt Deutschland aber zurück – bei der Eindämmung der Krankheit, beim Schutz der besonders verwundbaren Gruppen und in der Effektivität der Maßnahmen.
Zu viele Ausnahmen
„Diese Maßnahmen, die wir jetzt machen – für mich ist das kein vollständiger Lockdown“, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler am Donnerstag. „Es gibt immer noch zu viele Ausnahmen, und er wird nicht stringent durchgeführt.“ Mit Blick auf ansteckendere Mutationen des Coronavirus ergänzte er: „Es besteht die Möglichkeit, dass sich die Lage noch verschlimmert.“
Der Kampf gegen die Verbreitung des Virus zerfasert, angesichts der ersten Impfungen und der Dämpfung des öffentlichen Lebens lässt die Disziplin nach. Und die Gruppen, die es als erste zu spüren bekommen, sind die Alten und Vorerkrankten. „Der Aspekt mit den Toten bedrückt mich enorm“, meint RKI-Präsident Wieler. Und es könnte noch schlimmer kommen, wenn sich das Infektionsgeschehen an Weihnachten und Silvester voll entfaltet. „Die hohe Zahl an Toten ist eine Folge der sehr hohen Fallzahlen in der Vergangenheit“, konstatiert der HZI-Infektionsforscher Binder. Und er nennt auch die einzige wirkliche Gegenmaßnahme gegen die ansteigenden Todeszahlen. Erst wenn es gelinge, die Zahl der Neuinfektionen zu senken, werde es auch weniger Corona-Tote geben. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.