Aachen : Als „Ballast der Gesellschaft” im Vergasungsraum
Aachen Ein so aufregendes wie eindringliches Buch über einige der schlimmsten Vorgänge in der deutschen Geschichte ist seit einigen Tagen auf dem Markt.
Es erzählt anhand eines einzelnen Schicksals den menschenverachtenden, schließlich mörderischen Umgang der Nazis mit Behinderten - und es ist zugleich eine Mahnung gegen das Vergessen. Sigrid Falkenstein, die Autorin, war 2003 per Zufall im Internet darauf gestoßen, dass ihre Tante Anna Lehnkering 1940 zu den Opfern einer Massenvernichtungsaktion von Behinderten und psychisch Kranken gehörte. Unter Mitarbeit des Aachener Psychiatrieprofessors Frank Schneider folgt die nachgeborene Nichte „Annas Spuren”, so der Titel des Buchs - soweit sie sich aus Akten, den verdrängten Erinnerungen der Familie und der Einfühlung der nachgeborenen Nichte erkennen lassen.
Anna Lehnkering wird am 2. August 1915 in Sterkrade, das damals noch nicht zu Oberhausen gehörte, geboren. Ihre Mutter Anna hatte eine Ausbildung im örtlichen Kaufhaus für Kurzwaren und Damenkonfektion. Mit ihrem Vater zusammen führte sie eine Gastwirtschaft, was ihm früh zum Verhängnis wurde und auch Annas Schicksal mitbestimmt hat.
Laut ihrer Patientenakte der damaligen „Rheinischen Provinzial-Kinderanstalt für seelisch Abnorme” in Bonn verläuft Annas Geburt „normal”. Weiter heißt es da: „Bis zum 4. Lebensjahr entwickelte sich das Kind ganz normal und sehr gut. Dann merkten die Eltern plötzlich, dass das Mädchen unruhig wurde. Es kam nachts an die Tür des Zimmers der Mutter und war dann sehr verängstigt. Wurde schreckhaft, zitterte häufig am ganzen Körper.”
„Angeborener Schwachsinn”
Um ihr viertes Lebensjahr herum, der erste Weltkrieg ist gerade vorbei und auch Annas Familie steht unter dem Eindruck der schrecklichen Erlebnisse, verschlimmert sich die Alkoholkrankheit des Vaters. Er stirbt 1921 im Alter von 35 Jahren an Leberzirrhose. Zehn Jahre danach wird Anna, so entnimmt es die Autorin der Akte, „beschämt den Kopf senken und leise erklären, dass deine vor allem bei Aufregung zittrigen Bewegungen zum ersten Mal aufgetreten seien als der Vater starb”.
Die Mutter heiratet wieder, und wieder einen Mann „mit gefährlichem Hang zum Trinken”, der wohl auch seiner Frau gegenüber aggressiv wird. Darunter, notieren die Ärzte, „leidet die Stieftochter besonders. Sie ist ein übernervöses, schwachsinniges Kind, das den Stiefvater fürchtet und ihm möglichst aus dem Wege geht”.
Eine andere Möglichkeit als Ursache für eine Behinderung, erwähnt später Annas Bruder, der Vater der Autorin: Angeblich habe ein Mädchen aus der Nachbarschaft Anna als Säugling fallen lassen.
Im Alter von sieben Jahren, nachdem Anna infolge eines Sturzes ihr rechtes Auge verloren hat, wird sie in einer Hilfsschule eingeschult, „kommt aber nicht gut mit” und schämt sich dafür. Wie sie tatsächlich von ihren Lehrern behandelt wird, ist nicht bezeugt. Doch es ist belegt, dass „eugenische” Ideen unter Hilfsschullehrern grassierten, die „minderwertige Kinder als Ballast” der Gesellschaft empfanden.
Mit Einverständnis ihrer Mutter wird Anna 1931/32, da ist sie 16 Jahre alt, in der Bonner Kinderanstalt untersucht. Über die bereits zitierten Feststellungen hinaus führt die Untersuchung zu diesem Befund: „Es handelt sich bei dem Mädchen um einen Schwachsinn erheblichen Grades.” Bei der Befundung in der „Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau” im Jahr 1936 wird daraus ein „angeborener Schwachsinn”.
Nach einem umfangreichen bürokratischen Akt, der in mehr als 40 Schriftstücken der „Erbgesundheitssache Anna Lehnkering” dokumentiert ist, wird Anna auf Antrag des Gesundheitsamtsleiters der Stadt Duisburg und nach einer Verhandlung vor dem dortigen Erbgesundheitsgericht im Februar 1935 im Evangelischen Krankenhaus von Mülheim zwangssterilisiert. Die Anreisekosten zum Gericht werden erstattet. „Die Unfruchtbarzumachende ist bestimmungsgemäß zu entschädigen”, schreibt die Prozessordnung vor.
Gestützt auf das in der Weimarer Zeit schon vorbereitete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” vom 14. Juli 1933 werden unter der Nazidiktatur bis 1945 bis zu 360 000 Menschen zwangssterilisiert, bis zu 6000 überleben den Eingriff nicht.
Trostbrief an die Mutter
Im Dezember 1936, unmittelbar vor Weihnachten, wird Anna in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau bei Kleve eingewiesen. Auf ihrem Krankenblatt wird vermerkt: „Angeborener Schwachsinn, erbkrank.” Das Pflegepersonal notiert Anna sei „abweisend und wenig folgsam, mürrisch, querulierend, nörgelnd, schwierig, schreit und lärmt”, aber auch „körperlich hilflos”. Anna wird offenbar zunehmend krank.
Im März 1940 wird Anna von Bedburg-Hau „nach Grafeneck verlegt, wo sie am 23.04.1940 verstarb”. So heißt es wörtlich in einer Mitteilung an die Buchautorin aus dem Jahr 2004. Die Nichte von Anna Lehnkering ist über diese bürokratische, unglaublich verharmlosende Formulierung - abgesehen davon, dass das Datum nicht stimmt - fassungslos, der Leser ist es auch. Es bleibt nicht die einzige Irritation über die Auskunftsbereitschaft der Nachfolgeorganisationen, die sich bis weit in die 2000er Jahre hinter „datenschutzrechtlichen Bestimmungen” verschanzen.
Grafeneck, im Landkreis Reutlingen, Baden-Württemberg, ist die erste NS-Tötungsanstalt, in der seit 1940 allein 10 654 Menschen - insgesamt werden rund 300 000 Kranke umgebracht - mit dem Befund geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung ermordet wurden. In der sogenannten „Aktion T4” wurden 1940 und 1941 mehr als 70 000 Psychiatriepatienten und Behinderte ermordet, darunter Anna (siehe Kasten).
Die „Verlegung” Annas ist eine Deportation in einem Sonderzug der Reichsbahn. 300 Frauen und 157 Männer, eingepfercht in zehn, kriegsbedingt verdunkelten Waggons. Nach anderthalb Tagen Fahrt werden die Waggons über acht Stunden entladen, die Kranken dann vom Bahnhof per Lkw nach Grafeneck gebracht, weniger als eine Minute von einem Arzt „untersucht” und zu jeweils mehren Dutzend in einen Raum geführt, vorgeblich zum Duschen.
„Beim Betreten des Vergasungsraums wurden die Kranken, maximal 75 Personen, nochmals gezählt, sodann die Tore geschlossen. Anfangs schienen einige Opfer noch geglaubt zu haben, es gehe tatsächlich zum Duschen, andere begannen sich im letzten Augenblick zu wehren und schrien laut. Die Zufuhr des Gases betrug in der Regel ca. 20 Minuten; sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen ließ.” So beschreibt eine für den Schulunterricht aufgearbeitete Dokumentation über Grafeneck aus dem Jahr 2000 den Vorgang.
Annas Mutter wird in einem sogenannten Trostbrief Ende April 1940 mitgeteilt, dass ihre Tochter an einer Bauchfellentzündung verstorben sei. Die Autorin vermutet, dass die Mutter die Urne mit der Asche ihrer Tochter nicht angefordert hat.
Auf den restlichen Seiten des Buches beschreibt Sigrid Falkenstein zum einen den Verdrängungsprozess in ihrer Familie, die sich, wenn überhaupt, nur mit Mühe an Anna erinnern will. Erst kurz vor seinem eigenen Tod bekennt der 89-jährige Bruder Annas, der Vater der Autorin: „Ich hatte eine Schwester, die behindert war.”
Schließlich kommt hier der Co-Autor Frank Schneider ins Spiel, der geholfen hat, das individuelle Schicksal Annas in den sozial-politischen Rahmen sowohl der Nazizeit wie der späten Aufarbeitung von Zwangssterilisation und Euthanasie in der Bundesrepublik zu stellen.
Schneider, Chefarzt der Psychiatrie des Uniklinikums Aachen, hatte, spät genug, in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) im Dezember 2010 mit einer bemerkenswerten Rede auf dem DGPPN-Kongress in Berlin die Verfehlungen seiner Kollegen während der Nazizeit offengelegt und damit die Erforschung dieser Geschichte befördert.
„Liebe Anna”
Psychiater „haben getäuscht, belogen und getötet”, bekannte Schneider und entschuldigte sich „für das Unrecht, das Ihnen im Namen der deutschen Psychiatrie und von deutschen Psychiaterinnen und Psychiatern angetan wurde”. Es war auch ein Psychiater, der schon 1920 den Begriff „Ballastexistenzen” prägte.
Etwas gewöhnungsbedürftig, aber einfach zu respektieren ist, dass die ehemalige Lehrerin Sigrid Falkenstein, geboren 1946, das ganze Buch als eine Art Brief an die „Liebe Anna” gestaltet und zudem mit dieser Anrede nahezu jeden Abschnitt beginnt. Manche Leser mag diese Erzählhaltung zu einer Toten und dieser sehr persönliche Ton auch zusätzlich berühren, von dem es in einer Rezension des „Spiegel” heißt, er statte „die Hauptperson mit einer Würde aus, die ihr zu Lebzeiten nie zuerkannt worden ist”.
Sigrid Falkenstein, Frank Schneider „Annas Spuren”, Herbig Verlag, 192 Seiten, 17,99 Euro Die Autoren und weitere Bücher zur NS-„Euthanasie”