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Cornelia Richter im Gespräch: Wunder ohne Samt und Seide

Cornelia Richter im Gespräch : Wunder ohne Samt und Seide

Weihnachten ist für die Theologin Cornelia Richter eine einfache, klare Geschichte vom Neuanfang in größter Not. Ob die heute auch mit einer Gottestochter zu erleben wäre?

Selten sind die Kontraste stärker als zum Weihnachtsfest: auf der einen Seite ein obdachloses Paar, das kurz vor der Geburt eines Kindes steht und sich aus blanker Not in einen Stall retten muss, wo das Baby zur Welt kommt. Auf der anderen Seite reich ausgestattete Wohnzimmer, Glanz, Gloria und Geschenke am Heiligen Abend. Die Freude und die Feier zur Geburt Christi gehören seit Jahrhunderten zum geistigen und emotionalen Fundament  christlich geprägter Gesellschaften. Zwar haben viele Menschen nur wenig oder gar keine Beziehung zum eigentlichen, biblisch-religiösen Ursprung der Weihnachtsgeschichte. Nach Aussage der evangelischen Bonner Theologin Cornelia Richter ändert das aber nichts daran, dass sie sich von dieser Geschichte tief berührt fühlen.
Warum das so ist, welche Erkenntnis die Frage nach der Wahrheit des Weihnachtsgeschehens bringt und worauf zu achten ist, wenn man sie deutet, darüber sprach Richter mit unserem Redakteur Peter Pappert.

Die Weihnachtsgeschichte ist vom Kleinkind bis zum Greis den Menschen vertraut. Bei aller Entkirchlichung ist und bleibt das, was das Lukas-Evangelium erzählt, ein ganz zentraler Bestandteil im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft. Warum ist das so?

Richter: Diese Geschichte ist sehr einfach und so klar, dass sie sich als eine Art Menschheitsgeschichte in die Herzen und in die kulturellen Gebräuche eingeschrieben hat. Die Krippenspiele sind da ein ganz wichtiger Faktor, weil sie für die Kinder ebenso den Zauber dieser Geschichte eröffnen wie für die stolzen Eltern und Großeltern – ein großes Gemeinschaftserlebnis. Wer einmal einen Hirten, ein Schaf oder einen Engel gespielt hat, vergisst das nicht. Und da kommen Menschen in die Kirche, die sonst mit der Kirche nicht viel zu tun haben.

Was zieht sie in die Kirche?

Richter: Das Krippenspiel wirkt auf die Menschen unabhängig davon, wie sie sich sonst zum Christentum stellen. Es ist ein schöner Brauch, der Grundbedürfnisse befriedigt. Der Inhalt ist menschheitsgeschichtlich relevant: Arme Eltern auf der Flucht sind immer herzzerreißend. Wenn in größter Not dann auch noch ein Kind geboren wird, weiß jeder, worum es geht. Die Geburt ist ein Wunder und Neuanfang; der Kontrast zur Not wird damit umso härter und als Botschaft dringlicher. In der Bibel wird das sehr klug mit einer Heilsgeschichte verbunden. Sie vermittelt die visionäre Hoffnungsbotschaft, dass sich selbst in größter Not das Heil zeigen wird, weil Gott für alle Menschen da ist.

Dr. Cornelia Richter ist seit 2012 Professorin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Dr. Cornelia Richter ist seit 2012 Professorin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Foto: Privat

Auch diejenigen, die mit dem Weihnachtsfest keine religiöse Überzeugung, keine Glaubensinhalte verbinden, können demnach mit dieser biblischen Geschichte etwas anfangen.

Richter: Ja. Dem Bild eines Neugeborenen kann sich kaum jemand entziehen.

Ist die Weihnachtsgeschichte wahr?

Richter: Sie ist so wahr wie jede Menschheitsgeschichte und drückt etwas Elementares aus, das hier und heute passieren könnte. Man muss nur die Nachrichten anschauen und weiß, dass jeden Tag Kinder in höchste Not hinein geboren werden. Die Weihnachtsgeschichte erkennt ihre Würde an. Der ethische Auftrag an uns als Gesellschaft ist unverkennbar.

Aber darüber hinaus geht es in der Bibel um noch mehr: Bei Markus, Johannes und Paulus oder in anderen Schriften des Neuen Testaments ist Jesus wie jeder andere Mensch gezeugt worden; da gibt es dann auch keine besondere Geburtsgeschichte. Bei Matthäus und Lukas ist das anders. Sie erzählen die Kindheitsgeschichte Jesu so, dass Jesus durch das Wirken des Heiligen Geistes von einer Jungfrau bzw. einer jungen Frau empfangen wird. Das ist allerdings keine primär biologische Aussage, sondern eine Heilserzählung. Sie wird von Ostern aus rückblickend erzählt und sagt: Dieser Mensch ist so besonders, dass er von Geburt an ganz nah an Gott gewesen sein muss. Die Geburtserzählung möchte Jesus so nahe wie irgend möglich an Gott heranrücken.

Deshalb müssen wir unterscheiden: In historischer Hinsicht ist die Weihnachtsgeschichte kaum zu beurteilen. Wir wissen nicht, wo und wie Jesus geboren wurde. Aber wir wissen, dass viele seiner Zeitgenossen gesagt haben: In Jesus Christus hat sich Gott selbst gezeigt. Das ist der Anfang des Christentums.

Rätselhaft und heute für viele Menschen wohl nur schwer zu begreifen. Früher wurden religiöse Aussagen von den Gläubigen schlicht nicht hinterfragt.

Richter: Ja. Allerdings muss man schon aufpassen, nicht missverstanden zu werden. Dass Inhalte nicht historisch korrekt zu datieren sind, heißt nicht, dass sie wertlos sind. In unserer empirisch geprägten Welt wird das häufig nicht verstanden. Es gilt scheinbar nur das, was uns direkt vor Augen liegt, was wir beobachten und messen können. Dieser Welt ein antikes Text- und Wahrheitsverständnis zu vermitteln, ist sehr schwierig. Aber gleichzeitig wissen wir, dass die Empirie nur einen sehr engen Ausschnitt der Welt zeigt. Zum Beispiel lassen sich schon Liebe und Hoffnung empirisch nicht nachweisen; aber jeder Mensch kennt sie. Man spürt, ob man geliebt wird oder nicht, auch wenn man „Liebe an sich“ nicht messen kann. Historisch richtig ist etwas, wenn wir dafür Inschriften, Augenzeugenberichte oder Ähnliches haben. Dass Jesus gelebt hat, dass seine Familie nicht besonders reich war, daran besteht kein Zweifel. Wir wissen vor allem, dass er gekreuzigt wurde. Das ist belegt – und zwar nicht nur durch Quellen aus seinem „Fan-Kreis“, sondern sozusagen durch Inschriften der römischen Bürokratie.

Je älter Jesus wird, umso historischer wird er?

Richter: Die Quellen belegen, dass der erwachsene Jesus große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Das ist ein wichtiger Indikator. Wäre Jesus unbedeutend gewesen, gäbe es diese Texte nicht. Die interne Sicht des Christentums erzählt rekonstruierend. Zuerst hat man nur mündlich von ihm erzählt; das war damals üblich, weil es das heutige Lesen und Schreiben ja noch gar nicht gab. Die entsprechenden Texte werden erst lange nach seinem Tod geschrieben. Die Leute sind erfüllt vom Glauben an Jesus Christus. Und aus diesem Glauben heraus rekonstruieren sie die Geburtsgeschichte.

Die Geburt im Stall.

Richter: Die theologische Botschaft lautet, dass der Gottessohn nicht im Prunk kommt, sondern in ärmlichste Verhältnisse hinein geboren wird. Das war in früheren Jahrhunderten eine Skandalbotschaft, weil Könige niemals in eine Krippe gebettet worden wären, sondern immer in Samt und Seide.

Wäre Jesus im Prunk auf die Welt gekommen, hätte die Geschichte dann auch diese Wirkung über alle Jahrhunderte gehabt?

Richter: Eben nicht. Dann wäre sie eine Königsgeschichte unter tausend anderen gewesen.

Der Sohn Gottes kommt als Kind und soll als Retter der Welt etwas bewegen. Wenn Gott auf der Welt heute etwas bewegen, etwas bewirken wollte, würde er dann vielleicht eher eine Tochter in diese Welt schicken?

Richter (lacht): Ja – das könnte vielleicht sein. Das ist eine unbeantwortbare Frage. Kein Mensch kann wissen, was Gott will. Jesus hat als Mann historisch gelebt. Wäre Jesus eine reine Kunstfigur, könnte man dieser Frage nachgehen. In der christlichen wie der jüdischen Tradition gibt es viele ganz bedeutende Frauengestalten. Jesus hätte genauso gut ein Mädchen sein können; aber das war er nun mal nicht. Es ist ziemlich egal, an welchem Geschlecht man eine Gestalt festmacht, die so beeindruckend ist.

Die katholischen Theologinnen Johanna Rahner (Tübingen) und Dorothea Sattler (Münster) sagen, erlösungstheologisch sei es ohne Belang, ob Jesus ein Mann war.

Richter: Natürlich! Er war ein Mann, und seine Geschichte spielt nun einmal in einer patriarchalischen Welt. Die ist, wie sie ist. Aber das bedeutet nicht, dass seine Erlösungsbotschaft nicht für alle Männer, Frauen und Menschen diversen Geschlechts dieser Welt gilt. Es geht um seine Predigt, sein Handeln und um die Hoffnung, die er in den Menschen geweckt hat und bis heute weckt.

„Sohn Gottes“ – das ist eine Metapher?

Richter: Ein sogenannter „Hoheitstitel“. Er drückt aus, dass dieser Mensch ein solches Charisma hat, das ihn von allen anderen Menschen abhebt. In ihm zeigt sich etwas Göttliches. Faszinierend ist, dass er über seinen Tod hinaus eine unfassbare Wirkung hatte. Den Menschen damals fehlten die Worte, um ihn zu beschreiben, also sagten sie: Sohn Gottes.

Die katholische junge Gemeinde (KJG) erwägt, Gott mit Gendersternchen zu schreiben. Ihre Geistliche Bundesleiterin fragt: „Was können wir tun, um das an vielen Stellen sehr männlich geprägte Gottesbild in die Vielfalt zurückzubringen, die es verdient?“  Man könne das Sternchen oder das Plus gegebenenfalls mitsprechen. Was halten Sie davon?

Richter: Gar nichts – obwohl ich in der Sprache in unserer Gesellschaft eine Verfechterin des Gendersternchens bin. Es ist wichtig, wahrzunehmen, dass Jesus als Mann geboren wurde. Genderdimensionen darf man nicht mehr ausblenden; das stimmt. Aber sie auf Gott selbst zu übertragen, ist absurd. Dann vermenschlicht man Gott. In der Fachsprache nennt man das „anthropomorphe Gottesvorstellung“. Alles, was wir Menschen sind und uns ausmacht, auf Gott zu übertragen, sollte eigentlich out sein. „Gott ist . . ., Gott will . . ., Gott macht . . .“, sollten wir nicht sagen, denn niemand von uns hat Gott je gesehen oder könnte in Gott hineinschauen. Sehr wohl aber kann man sagen  „Gott ist wie . . .“ und dafür die Fülle der biblischen Gottesbilder aufrufen. In dem Wie kann ich mit vielen biblischen Texten männliche wie weibliche, mütterliche wie väterliche Züge erkennen. Nochmal: Die biblischen Texte stammen aus einer Zeit, die patriarchalisch geprägt war. Deshalb war die Sprache so.

Jetzt nehme ich mal eine Reaktion vorweg, die wir aus unserem Leserkreis auf unser Interview womöglich erhalten. Die könnte lauten: Dieser Zeitung ist überhaupt nichts mehr heilig, wenn sie sogar Weihnachten in die Genderdebatte reinzieht.

Richter (lacht): Ja, das wäre nachvollziehbar. Es kommt darauf an, ob wir von Jesus oder von Gott oder von der Erlösung für uns sprechen. Diese drei Dimensionen müssen wir unterscheiden. Jesus als Mann ist historisch belegt; es hätte auch eine Frau sein können, war’s aber nicht. Ich würde eher zusätzlich auf die beeindruckenden Frauengestalten der Bibel verweisen. Maria ist zum Beispiel eine beeindruckende Frau: Sie lässt sich von dem Engel als Boten Gottes nicht schrecken, sondern spricht mit  ihm auf Du und Du. Sie bekommt keinen hysterischen Anfall, sondern sagt: „Das ist aber schwierig mit der Empfängnis. Wie soll denn das gehen?“ (lacht) Das ist schon eine coole Reaktion von ihr. Die Theologie hat es jahrhundertelang versäumt, die wichtigen Frauen des Christentums herauszustellen. Das machen wir heute wirklich ganz anders. Trotzdem gilt: Christus als Erlöser ist eine Verheißung für alle.

Was ist schlimmer: falsche, verlogene Stimmung zu Weihnachten oder die alljährliche Aufregung über falsche, verlogene Stimmung zu Weihnachten?

Richter: Ich sehe diese Alternative nicht. Unsere Welt krankt an Schwarz-Weiß-Extremen. Wir sollten alle farblichen Zwischenstufen betonen. Es ist überhaupt nicht im Sinne des Weihnachtsfestes, Konflikte zu übertünchen; genau das gibt die Weihnachtsgeschichte nämlich nicht her. Sie ist eben nicht sanft und selig. Sie wird nur häufig so gezeichnet. An der Grenze zwischen Belarus und Polen wird derzeit wahrscheinlich auch ein Kind geboren; auch das gehört zu Weihnachten. Wenn dessen Eltern es in dieser Situation in Händen halten, dann sind sie total erschöpft und verzweifelt, weil sie nicht wissen, wohin sie sollen. Und zugleich wird im Umfeld dieser kleinen Familie wahrscheinlich vollkommene Faszination für das Neugeborene herrschen: das Kind als Hoffnungsträger – sogar dort. Weihnachten ist dazu da, diese Gleichzeitigkeit zu erkennen. Auch in weniger dramatischen Umständen: Das Weihnachtsfest lädt dazu ein, Spannungen zu sehen und trotzdem miteinander auszukommen. Frieden auf Erden – wenigstens mal für drei Stunden.