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150 Jahre RWTH: Vom Fremdkörper zum Aushängeschild

150 Jahre RWTH : Vom Fremdkörper zum Aushängeschild

Die RWTH Aachen wird 150 Jahre alt: Nur eine Erfolgsgeschichte? Es lohnt auch der Blick aus einer anderen Perspektive. Unsere Rückschau auf die bewegte Geschichte einer Aachener Institution.

Die Historie der RWTH Aachen lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen. Natürlich können ihre 150 Jahre als Erfolgsgeschichte dargestellt werden. Es wäre eine lange Aneinanderreihung von bahnbrechenden Erfindungen, großen Entdeckungen und neuen Denkansätzen. Die Namen von fünf Nobelpreisträgern und vielen weiteren bedeutenden Wissenschaftlern würden fallen. Zum Beispiel die der Physiker Theodore von Kármán und Arnold Sommerfeld. Oder der des Flugzeugpioniers Hugo Junkers.

Erzählen lässt sich solch eine Erfolgsgeschichte auch als ein Prozess räumlicher und personeller Expansion. Beginnen würde sie mit den Anfängen der Hochschule als „Königliche Rheinisch-Westphälische Polytechnische Schule“, die am 10. Oktober 1870 mit 32 Lehrern und 223 natürlich ausnahmslos männlichen Studenten am Templergraben ihren Betrieb aufnahm.

Schildern ließe sich deren Entwicklung hin zu einer im nahezu gesamten Stadtgebiet verwurzelten Ideenschmiede und weltbekannten Forschungsfabrik, die heute mit etwa 45.000 Studierenden und rund 10.000 Beschäftigten (darunter mehr als 500 Professoren) nicht nur der wichtigste Arbeitgeber Aachens, sondern auch die größte Universität für technische Studiengänge in Deutschland ist. Wenn offizielle Hochglanzbroschüren zu einem Jubiläum erscheinen, sind solche Blickwinkel die Regel.

Rüdiger Haude schaut aus einer anderen Perspektive auf seine Alma Mater. Der Privatdozent am Historischen Institut der RWTH beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit Fragen wie: Welches Verhältnis pflegte während der vergangenen 150 Jahre die Hochschule zur Aachener Stadtgesellschaft? Welche politische Rolle spielte sie? Wie hat sich ihr Selbstverständnis seit 1870 verändert? Stimmt tatsächlich eine Aussage, die 2017 im „Code of Conduct“ der Hochschule festgeschrieben wurde, nämlich der Satz: „Die RWTH Aachen ist seit ihrer Gründung bestrebt, Forschung und Lehre im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung einer Universität zu betreiben.“

Bei seiner Arbeit ist Haude zwangsläufig auf dunkle Seiten der Hochschulhistorie gestoßen. „Neben der Erfolgsgeschichte gibt es auch eine Skandalgeschichte“, sagt der 60-jährige Forscher. Gleichzeitig steht für ihn fest: „Die von der Hochschule behauptete historische Kontinuität ist Fiktion. Alles – außer der engen Verbindung zur Industrie – war einem Wandel unterworfen.“

Der Rektor ruft zu den Waffen

Das gilt allein schon für das Ansehen der Hochschule in der Aachener Bürgerschaft. Heute dominiert in ihr der Stolz auf die RWTH. Neben Karl dem Großen ist sie international das bedeutendste Aushängeschild der Stadt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 war ihre Wahrnehmung allerdings eine gänzlich andere. „Die Hochschule wurde in Aachen als Fremdkörper betrachtet“, sagt Haude. „Die meisten Bürger blieben auf Distanz zu ihr. Als preußisch-protestantische Gründung galt sie im tiefkatholischen Rheinland als Instrument des Kulturkampfes.“

Im Gegenzug schauten die Akademiker oft herablassend auf die Aachener, auf den unwissenden „Pöbel“. Bezeichnend ist eine Aussage August von Kavens. In der alten, katholischen Kaiserstadt, „hier, wo es am dunkelsten in Deutschland ist“, soll die Pflege der Wissenschaft endlich dafür sorgen, dass „es heller werde“, verkündete der Gründungsdirektor 1875.

Verhüllt: Der aktuell sichtbare Überzug über das Hauptgebäude ist kein Kunstwerk, sondern soll die Natursteinfassade des alten Baus sichern, bis die geplante Sanierung erfolgen kann. Die Lösung wurde gewählt, weil sie ästhetischer wirkt als ein Baugerüst.
Verhüllt: Der aktuell sichtbare Überzug über das Hauptgebäude ist kein Kunstwerk, sondern soll die Natursteinfassade des alten Baus sichern, bis die geplante Sanierung erfolgen kann. Die Lösung wurde gewählt, weil sie ästhetischer wirkt als ein Baugerüst. Foto: Harald Krömer

Erst mit Beginn des 1. Weltkrieges kommt es zur Aussöhnung von Hochschule und Aachener Bürgertum. Wie im gesamten Reich ist der katholisch-protestantische, rheinisch-preußische Gegensatz nun vergessen. Stattdessen läuft der deutschnationale Chauvinismus Amok. Nicht nur der Kaiser, auch der Hochschulrektor ruft zu den Waffen.

„Studenten, fehlt nicht! Frisch auf zur Tat! Kommilitonen, die ihr noch nicht militärpflichtig seid, zeichnet Euch ein zum freiwilligen Eintritt in das Heer“, heißt es am 1. August 1914 in einem Aufruf des Hochschulrektors Adolf Wallichs. Rund 200 Studenten melden sich, einige Professoren ebenfalls. „Die Hochschule blutete zu dieser Zeit personell aus, war von der Schließung bedroht“, sagt Haude.

Viele Aachener Studenten sterben in den „Stahlgewittern“, aber die nationalistisch-elitären Gesellschaftsvorstellungen überleben das Völkergemetzel. Stärker noch als Universitäten bleiben Technische Hochschulen in der Weimarer Republik ihre Brutstätten. Aachen ist da keine Ausnahme. Zunehmend klingen auch hier völkische Töne durch.

„Die Wiedergeburt von Deutschlands Größe … wird erreicht, indem der deutsche Student zum Führer … heranwächst“, erklärt 1920 der Geografie-Professor Max Eckert und repräsentiert damit die antidemokratische Grundhaltung an der Aachener Hochschule. „Kritischen oder gar linken Geist gab es zu dieser Zeit dort nur in homöopathischer Dosis“, sagt Haude. „Die Türen für die Machtübernahme der Nationalsozialisten standen an der Hochschule frühzeitig sperrangelweit offen.“

So beherrscht dann auch bereits in den ersten Monaten des Jahres 1933 Denunziation und antisemitischer Terror den Alltag der TH. „Noch bevor im April die Nationalsozialisten mit ihrem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums beginnen, jüdische und politisch missliebige Beamte aus dem Staatsdienst zu entfernen, fordert der von katholischen Verbindungsstudenten dominierte Asta die Hochschulleitung auf, jüdische Dozenten und den einzigen linken Professor, den Volkswirtschaftler Alfred Meusel, rauszuwerfen“, sagt Haude.

Innerhalb weniger Monate verlieren zahlreiche Dozenten die Lehrerlaubnis – unter anderem der Literaturwissenschaftler Ludwig Strauss, der Chemiker Arthur Guttmann oder der Mathematiker Otto Blumenthal. Dafür rücken andere mit einem NS-Parteibuch auf, machen Karriere. „Maßgeblich für unsere Gemeinschaft sind einzig die Forderungen des nationalsozialistischen Gedankenguts und seine Zielsetzung, die wir auf dem Sektor Wissenschaft zu erfüllen haben“, tönt 1941 der damalige Rektor Hans Ehrenberg.

 Historisches Bild: Das Hauptgebäude der Hochschule am Templergraben um 1868.
Historisches Bild: Das Hauptgebäude der Hochschule am Templergraben um 1868. Foto: Hochschularchiv

Ehrenberg ist einer der ganz wenigen Aachener Hochschullehrer, deren Karriere mit der NS-Diktatur endet. Viele andere Dozenten tauschen ihren braunen gegen einen weißen Kragen und machen nach der Wiedereröffnung der Hochschule 1946 munter weiter. „Die Entnazifizierung der Aachener Professorenschaft war ein Witz“, sagt Haude.

„Technokratischer Geist“

In den folgenden Jahren flüchtet sich die Hochschule ins Unpolitische. Auseinandersetzungen – etwa 1968 im Zuge der Studentenrevolte der Streit um eine neue TH-Verfassung – werden mit einem ingenieurstypischen „Pragmatismus“ eingefangen. Dafür schnellt im Zuge der sozialliberalen Bildungsreformen ab den 70er Jahren auch in Aachen die Zahl der Studenten in die Höhe.

„Parallel dazu entwickelte sich an der Hochschule ein immer stärkerer technokratischer Geist“, sagt Haude und zitiert einen Satz aus ihrem aktuellen Leitbild: „Die auf dem Campus geförderte unternehmerische Grundeinstellung und die Zusammenarbeit mit Industriepartnern kommt sowohl Studierenden als auch Mitarbeitenden der RWTH Aachen zugute.“

Haude sieht diese Haltung kritisch, beklagt einen viel zu großen und ständig wachsenden Einfluss der Wirtschaft auf die Forschung. „Aachen ist heute die deutsche Hochschule, die am stärksten mit Drittmitteln, also mit finanziellen Zuwendungen von Seiten der Industrie arbeitet“, sagt Haude. „Viele Ergebnisse der Drittmittelforschung bleiben aber geheim. Das widerspricht einem Wesensmerkmal von Wissenschaft in der Demokratie, nämlich ihrem öffentlichen Charakter.“

Dies selbstkritischer zu reflektieren und sich gleichzeitig auch intensiver mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, sind Wünsche von Haude zum 150-jährigen Jubiläum der Hochschule. Es wäre eine deutliche Erweiterung der Perspektive.

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