Bizarrer Mordversuch am Urftsee : Richter nennt Erklärung des Opfers „Bullshit“
Aachen/Schleiden Ein Mann wird in der Eifel an ein Auto gebunden fast zu Tode geschleift. Doch über die Hintergründe der Tat lässt er die Richter im Dunkeln. Warum? Einblicke in einen der rätselhaftesten Prozesse des Jahres vor dem Aachener Schwurgericht.
Der Mann, der am Vormittag des 6. April von Spaziergängern halbtot am Urftsee gefunden wurde, ist wieder lebendig. Patrick K. war nervös und hibbelig, als er diese Woche das Aachener Landgericht betrat und im Zeugenstand Platz nahm. Er sollte der Schwurgerichtskammer erklären, was sich am Abend vor der Tat, in der Nacht zum 6. April und am folgenden Morgen am Urftsee zugetragen hatte.
Oft sind solche Schilderungen ergreifend oder entsetzlich, mitleiderregend oder empörend, doch Patrick K. brauchte kaum länger als zwei Minuten, um zu erzählen, wie und warum zwei Männer ihn mit einem Baumstamm verprügelt, an einen Mercedes Vito gebunden, Vollgas gegeben und ihn mehr tot als lebendig am Urftsee seinem Schicksal überlassen hatten.
Nach diesen zwei dahingenuschelten Minuten griff Patrick K. nach seiner Mütze und seinem Handy und wollte das Gericht eigentlich schon wieder verlassen.
Der versuchte Mord in Hameln
Von einigen bemerkenswerten Prozessen, die im Laufe des Jahres am Aachener Landgericht stattgefunden haben und immer noch stattfinden, ist der versuchte Mord am Urftsee möglicherweise der rätselhafteste. In der jüngeren Justizgeschichte des Aachener Landgerichts ist kaum ein Fall bekannt geworden, in dem ein Opfer ähnlich grausam traktiert wurde wie Patrick K. am 6. April. Die Aachener Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass zwei 36 und 37 Jahre alte Deutsch-Russen, die seit dem 8. Oktober wegen versuchten Mordes vor dem Aachener Landgericht stehen, Patrick K. tatsächlich an einem Auto festgebunden und ihn am Urftsee entlang geschleift hatten.
Der letzte vergleichbare Fall, der in der Bundesrepublik öffentlich wurde, ereignete sich im November 2016 in Hameln, als ein Iraker seine Frau ermorden wollte, sie mit einer Axt schlug und später mit einem Seil an sein Auto band und durch die Stadt schleifte. Wie Patrick K. überlebte damals auch die Frau in Hameln schwer verletzt. Im Mai 2017 war der damals 39-jährige Iraker wegen versuchten Mordes zu 14 Jahren Haft verurteilt worden.
Sein Motiv: Hass auf seine Frau.
Das Motiv am 6. April? Das ist die große Frage, zu deren Beantwortung Patrick K. (40) am Landgericht erschienen war.
Nach seiner Schilderung, die Richter Roland Klösgen in einer fast dreistündigen Befragung aus Patrick K. gewissermaßen herausholen musste, war es so, dass sein Arbeitskollege Victor B. und dessen Bekannter Juri Z. ihn am 5. April, einem Freitag, zu einem gemütlichen Abend in einer Gartenlaube einluden. Patrick K. willigte ein, und gegen 22.30 Uhr am selben Tag holten Victor B. und Juri Z. Patrick K. mit einem Mercedes Vito zu Hause in Euskirchen-Kuchenheim ab. Gemeinsam fuhren sie zu einer nahegelegenen Aral-Tankstelle, kauften Zigaretten, eine Kiste Reissdorf-Kölsch und eine Flasche Wodka. Sie verließen die Tankstelle gegen 23 Uhr, wie auf Videoaufnahmen der Tankstelle zu sehen ist. Danach fuhren sie in die Gartenlaube an der Erft, nicht weit von der Tankstelle entfernt.
Zu dritt leerten die Männer zunächst die Flasche Wodka, danach, so schilderte es Patrick K., seien Victor B. und Juri Z. an einem Tisch sitzend eingeschlafen. Patrick B. habe sich darüber gewundert, sei aufgestanden, habe den Bierkasten genommen und sei ins Freie gegangen. Dort sei auch er eingeschlafen und über dem Bierkasten liegend erst wieder aufgewacht, als ihn die beiden Männer wachrüttelten und mit den Scheinwerfern des Mercedes anstrahlten. Victor B. habe ihn zwei Mal mit dem Spann ins Gesicht getreten, wobei K.s Brille kaputt ging, acht Dioptrin stark. Ohne Brille ist Patrick K. fast blind.
Nackt bei vier Grad unter null
Die Männer hätten ihm vorgeworfen, ihnen Handys und Geld gestohlen zu haben, sagte K., dann hätten sie ihn in den Vito gezerrt und seien mit ihm zum Urftsee im Nationalpark Eifel gefahren, 40 Kilometer von der Gartenlaube entfernt. Dort angekommen, sei er von Victor B. mit einem Baumstamm verprügelt worden und habe sich ausziehen müssen, bei vier Grad unter null. Die Männer hätten kontrollieren wollen, ob er Geld und Handys bei sich habe. Hatte er nicht.
Juri Z. habe ihm dann ein am Mercedes befestigtes Tau um den Bauch gebunden, woraufhin Victor B. eingestiegen und losgerast sei. Patrick K. schleuderte hinter dem Vito über den Waldweg am Urftsee, überschlug sich mehrmals und schrie vor Schmerz. Kurz darauf habe auch Juri mal fahren wollen, die Männer tauschten die Sitze, Patrick K. hing immer noch am Tau.
Schließlich banden sie ihn los, warnten ihn davor, die Polizei zu rufen, fuhren davon und ließen Patrick K. liegen. Gegen 11 Uhr morgens wurde er von einem jungen Paar gefunden, nachdem er sich am Urftsee entlang zu einer nahegelegenen Landstraße geschleppt hatte und zwischendurch immer wieder erschöpft zusammengebrochen war.
So weit Patrick K.s Schilderung, die in keinem Fall stimmen kann. Richter Klösgen bezeichnete diese Version als „Bullshit“.
Punkt eins, an dem Klösgen stutzig wurde, war die Art der Einladung zu besagtem gemütlichen Abend in der Gartenlaube: Victor Z. hatte am 5. April bei Patrick K. angerufen, war später persönlich bei ihm vorbeigekommen und hatte sowohl am Nachmittag als auch am Abend gemeinsam mit Juri Z. auf einem Parkplatz an der Kuchenheimer Kirche auf Patrick K. gewartet, als der mit dem Hund einer Mitbewohnerin spazieren ging. Es klang eher so, als hätten sich die beiden vergewissern wollen, dass Patrick K. sich nicht unbemerkt davon stiehlt.
Warum? Patrick K. redete viel und sagte wenig.
Punkt zwei: Zwei Männer Ende 30, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, sagte Klösgen, sollen nach dem Genuss von etwa 0,2 Litern Wodka plötzlich betrunken in komatösen Tiefschlaf gefallen sein. „Wer soll das denn glauben?“, erboste sich der Richter.
Punkt drei: Mitten in der Nacht, um 3.26 Uhr, schickte Victor B. einem gemeinsamen Bekannten von Patrick K. und ihm eine Nachricht von seinem Handy aus: „Wo ist der Hurensohn?“ Klösgen geht davon aus, dass Patrick K. gemeint war. Aber vor allem: Wenn Victor B. mit seinem Handy eine Nachricht schreibt, warum sollte er dann Patrick K. vorgeworfen haben, dieses Handy gestohlen zu haben?
Punkt vier: Im Laufe der Ermittlungen hatte Patrick K. bei der Polizei sehr unterschiedliche Versionen über den Ausgangspunkt des Streits zu Protokoll gegeben, der zu dem versuchten Mord am Urftsee führte. Keine einzige hat Klösgen überzeugt.
Viel mehr hat der Richter eine eigene Theorie: In der Gartenlaube könnten die drei Männer beschlossen haben, Drogen konsumieren zu wollen. Patrick K., selbst Drogenkonsument und eigener Auskunft nach vergangenes Jahr wegen Drogenhandels zu einer Geldstrafe in Höhe von 5555 Euro verurteilt, könnte von Juri Z. und Victor B. Geld eingesammelt haben und losgezogen sein, um Drogen zu besorgen. Kam dann nicht zur Gartenlaube zurück, wurde von den beiden Angeklagten gesucht und gefunden, zum Urftsee gefahren und dort wie beschrieben traktiert, mutmaßte Klösgen.
Patrick K. schüttelte hektisch den Kopf. „Ehrlich, Herr Richter, so war’s nicht!“
Die anderen Zeugen
Ein Freund und eine Mitbewohnerin schilderten, dass Patrick K., dem mit zwei Lungenoperationen das Leben gerettet wurde, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ausgesehen habe wie eine lebende Leiche. Dennoch versuchten sie, dem Gericht weiszumachen, sie hätten mit Patrick K. nie über die Hintergründe der Tat am 6. April gesprochen. Klösgen glaubte auch ihnen nicht.
Die beiden Angeklagten, Juri Z. und Victor B., haben in dem Prozess jederzeit die Möglichkeit, zur Aufklärung beizutragen. Tun sie bislang aber nicht, müssen sie laut Gesetz auch nicht. Stattdessen folgten sie der stundenlangen Befragung des Gerichts und den hingenuschelten Antworten von Patrick K. ohne ein Wort zu sagen, ohne die Blickrichtung zu wechseln und ohne auch nur ein einziges Mal ihren Gesichtsausdruck zu ändern.
Das Urteil soll am 14. November verkündet werden.