„Haus Hamburg“ : Kinderqualen im Kurheim
Bad Sassendorf Demütigung, Zwang, traumatische Erlebnisse. Betroffene, die in ihrer Kindheit in Kinderkurkliniken waren, leiden teils bis heute. In Bad Sassendorf hat die Aufarbeitung der Geschehnisse begonnen.
Die Reise in die Kinderkurheime begann am Bahnhof. „Ohne irgendeine Erklärung oder Vorwarnung wurden wir in den Zug gesetzt“, erinnert sich Claudia*, die 1975 in der Kinderkur war. Das Ziel des Zuges war „Haus Hamburg“ in Bad Sassendorf bei Soest. Die in den 20er Jahren gebaute Kinderkurklinik präsentiert sich auf alten Postkarten als modernes Gebäude in strahlendem Weiß. Es lag am Stadtrand, neben einem Wildpark.
Die Gründe für die Kuren waren vielfältig: Einige Kinder wurden verschickt um ab-, andere um zuzunehmen. Auch Atemwegserkrankungen oder Bettnässen konnten Ursache sein, um vom Arzt eine Empfehlung für die Kur zu bekommen.
Wer Bettnässer war, bekam abends oft nichts mehr zu trinken, berichten Betroffene. Doch das erzielte nur selten den gewünschten Erfolg. Als Claudia eines Nachts auf die Toilette wollte, wurde sie von den „Tanten“, wie die Pflegerinnen genannt wurden, davon abgehalten – und machte prompt ins Bett. „Ich hatte solche Angst, dass ich mir von einem Mädchen eine Unterhose und eine Pyjama-Hose lieh und in meinem nassen Bett neben dem Fleck versuchte, weiter zu schlafen“, erzählt sie. „Dafür bekam ich wieder Ärger und auch schon am Nachmittag nichts mehr zu trinken.“
Nach dem Aufstehen ging es für die Kinder zum Frühstück. Das Essen haben viele der Betroffenen noch sehr genau in Erinnerung. Im Haus Sassendorf wurde zum Frühstück Caro-Kaffee serviert, der getrunken werden musste. Zum Abendessen gab es dem Grund der Kur entsprechendes Essen: Wer abnehmen sollte, bekam weniger, wer zunehmen sollte, mehr. Die Kinder passten sich schnell an und teilten die Portionen. Denn: Es musste aufgegessen werden. Wer seine Portion nicht aufbekam, musste so lange sitzen bleiben, bis der Teller leer war – egal, was drauf war. Georg* war 1955 als Fünfjähriger in Bad Sassendorf. „Dort musste ich Erbrochenes weiter essen“, berichtet er heute.
Regelmäßig mussten die Kinder ihren Eltern Postkarten schreiben. Wer nicht schreiben konnte, diktierte den Text. Frei schreiben durften die Kinder nicht. Wer seinen Eltern von Heimweh, Hunger oder den traumatischen Erlebnissen berichteten wollte, bekam die Karte durchgerissen. Der nächste Versuch wurde dann von den „Tanten“ diktiert.
Briefe und Pakete zurückgehalten
Briefe und Pakete, die von zu Hause an die Heime geschickt wurden, wurden teilweise zurückgehalten oder unter dem Personal aufgeteilt. „Die schönen Briefe, die meine Mutter mir immer geschrieben hat, bekam ich erst in meinen Koffer gelegt, als wir abreisten“, sagt Claudia. „Dass sie mir immer Comics und Kinderbilder ausgeschnitten und die Briefe damit verziert hat, habe ich erst hinterher gesehen.“
Als Solekurort gab es in Bad Sassendorf einen Sole-Raum, in dem salzhaltige Luft inhaliert wurde. Auch Solebäder hat es gegeben. „War man fertig, wurde man mit einem Saunakübel eiskaltem Wasser übergossen“, sagt Petra*, die 1979 in Kur war. „Bis heute erschrecke ich, wenn mich jemand mit kaltem Wasser bespritzt.“
Am Nachmittag ging es in den Kurpark. „Dort mussten wir in einen dunklen Gang gehen“, sagt Claudia – das Gradierwerk des Solekurorts. „Wir haben uns sehr gefürchtet, viele haben geweint, davon hat aber keiner Notiz genommen, weil wir diesen Gang allein durchgehen mussten. Es war dunkel, tropfte von der Decke und es war sehr kalt. Wir hörten gruselige Stimmen.“
Zuhause glaubt den Kindern niemand
So schlimm es in der Kinderkur auch gewesen sein mag – für einige Betroffene begannen die eigentlichen Probleme erst zu Hause. Wer von seinen Erlebnissen im Heim berichtete, dem wurde oft nicht geglaubt. Die Geschichten wurden als Kindermärchen abgetan.
Viele Betroffene berichten, dass sie sich nur bruchstückhaft an die Erlebnisse erinnern können. Andere, wie Maria*, haben ihre Erinnerung ganz verloren. Sie war 1973 als Zehnjährige im „Haus Hamburg“. Erinnern könne sie sich an nichts, was vor ihrem 14. Lebensjahr passierte. „Seit November letzten Jahres bin ich bei einem Arzt in Hypnosetherapie, um meine komplett ausgelöschten Kindheitserinnerungen hervorzuholen“, sagt Maria. „Ich denke, von uns ‚Erinnerungslosen’ gibt es eine große Anzahl.“
Doch Haus Hamburg hat noch ein weiteres Problem: „2004 fragte mich eine Psychotherapeutin in ihrer Anamnese, was ich über das Alter von sechs Jahren wusste“, sagt Petra*. „Ich sagte nur ‚Nichts, es ist wie ein schwarzes Loch’.“ Fünf Jahre später kamen die Erinnerungen im Rahmen einer Traumatherapie wieder hoch.
Bislang ein sexueller Missbrauchsfall bekannt
„Damals hat mich ein Arzt mehrmals sexuell oral missbraucht, während ich krank alleine in einem Zimmer mit karierter Bettwäsche lag“, sagt Petra. „Er drohte mir, es sei besondere Medizin, und wenn ich es nicht tun würde, würde ich meine Eltern und Geschwister nie wiedersehen.“ Bisher handelt es sich dabei um einen Einzelfall, sagt die DAK, die das Haus ab 1960 betrieben hat. Weitere Berichte über Missbrauch im Haus Hamburg habe es noch nicht gegeben.
Als eine der ersten Trägerinnen der Kinderkurheime hat die DAK die Betroffenen Ende vergangenen Jahres öffentlich um Verzeihung gebeten, Hilfe angeboten und Aufklärung angekündigt. „Wir haben damit begonnen, alle Hinweise von Betroffenen zu sammeln“, sagt Pressesprecher Jörg Bodanowitz.
Die DAK arbeite in vollem Umfang mit den Betroffenen zusammen – doch die Pandemie mache die Aufklärungsarbeit schwierig. Persönliche Treffen sind derzeit nicht mehr möglich. Trotzdem arbeite die Krankenkassen nach wie vor mit Hochdruck an der Aufklärung. Als nächstes soll etwa eine Stelle für einen Wissenschaftler ausgeschrieben werden, der die Aufklärung betreut.
Heute existiert das „Haus Hamburg“ in Bad Sassendorf nicht mehr. Die Gebäude wurden abgerissen und durch eine moderne Reha-Klinik ersetzt. Übrig geblieben sind nur die Erinnerungen, ein paar Postkarten und Schriftstücke.
* alle Namen der Betroffenen von der Redaktion geändert