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Von Rissen, Protesten und Menschenketten: Heute geht Tihange 2 vom Netz

Von Rissen, Protesten und Menschenketten : Heute geht Tihange 2 vom Netz

Der umstrittene belgische Atommeiler Tihange 2 beschäftigt über ein Jahrzehnt die Menschen in der Städteregion Aachen, aber auch im Kreis Düren und Kreis Heinsberg. Die wichtigsten Fakten.

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In Belgien wird am Dienstag der umstrittene Atomreaktor Tihange 2 endgültig heruntergefahren. Der Vorgang beginnt laut Engie ab 18.30 Uhr, kurz vor Mitternacht soll der Meiler dann abgeschaltet sein. Warum der Meiler so umstritten war: Alles fängt 2012 an. Damals wird bekannt, dass es in den beiden belgischen Atommeilern Tihange 2 in Huy und Doel 3 bei Antwerpen Haarrisse in den Reaktordruckbehältern gibt. Das Brisante: Das belgische Atomkraftwerk Tihange liegt Luftlinie nur rund 60 Kilometer von der Aachener Stadtgrenze entfernt. Gehen anfangs nur Atomkraftgegner gegen Tihange auf die Straße, nehmen mit Bekanntwerden immer neuer Vorfälle und Studien rund um Tihange die Sorgen der Menschen zu und bewegen am Ende eine ganze Region. Am 1. Februar, oder genauer am 31. Januar um 23.59 Uhr, nun geht Tihange 2 vom Netz. Bis dahin ist es ein langer Weg gewesen. Ein Überblick.

Risse

Dass es Risse in den Druckbehältern der Atomreaktoren Doel 3 und Tihange 2 gibt, wird erstmals im Sommer 2012 bekannt. Die belgische Atomaufsichtsbehörde erklärt, dass die Meiler trotz der Risse sicher seien. Bei Ultraschalluntersuchungen wurden 8000 dieser Defekte in Doel 3 und 2000 in Tihange 2 entdeckt. Man geht zunächst von einer durchschnittlichen Größe von einem Zentimeter und einer maximalen Größe von 2,4 Zentimetern aus. Daraufhin werden beide Reaktoren zunächst heruntergefahren. Jan Bens, damals Leiter der Atomaufsichtsbehörde Fanc (Federaal Agentschap voor Nucleaire Controle), sagte im Frühjahr 2013, die Reaktoren seien intensiv untersucht worden und zu „101 Prozent“ sicher, so dass Doel 3 und Tihange 2 Anfang Juni 2013 vom Betreiber Electrabel, später Engie, wieder hochgefahren werden dürfen. Im März 2014 werden sie auf behördliche Anordnung wieder heruntergefahren.

2015 korrigiert die Fanc die Zahl der Risse nach oben: 3149 in Tihange und 13.047 in Doel. Kurze Zeit später werden neue Zahlen zur Größe der Risse bekannt. Statt der bislang angegebenen maximalen Länge von 2,4 Zentimetern ist von neun Zentimetern die Rede. „Die Risse sind nicht größer geworden, sie wurden jetzt nur präziser per Ultraschall untersucht“, sagt Anne-Sophie Hugé, Engie-Sprecherin. Die Fanc erlaubt Mitte Dezember dann auch das Wiederanfahren der Meiler.

Proteste

Nach Bekanntwerden der Risse sind das Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie und andere Atomkraftgegner aus der Region mit ihren Protesten zunächst eher allein. Spätestens als Tihange 2 am 14. Dezember 2015 wieder hochgefahren werden darf, sind die Sorgen in Aachen und der Städteregion aber riesig. Am 22. Dezember 2015 gibt es eine Demonstration am Elisenbrunnen mit rund 1500 Menschen. Fortan gibt es immer wieder kleinere und größere Protestaktionen. Die Grünen verteilen 2016 „Tihange abschalten“-Plakate, die fortan in Hunderten Häusern und Wohnungen in den Fenstern kleben. Die Partei organisiert zudem mehrere Fahrradsternfahrten gegen Tihange (Tour Becquerel). Für die Aktion „Abschirmen unmöglich“ werden 2016 mehr als 5000 Tihange-Regenschirme in der Region verkauft. Der Fußball-Regionalligist Alemannia Aachen spielt am 12. November 2016 gegen die U21 des 1. FC Köln am Tivoli unter dem Motto „Stop Tihange“, was übrigens groß auf den Trikots zu lesen ist. Mehr als 21.000 Zuschauer kommen zu dem Spiel, dessen Einnahmen gespendet werden. Unser Medienhaus organisiert 2017 ein Forum mit prominenten Teilnehmern. Es gibt einen Schaufenster-Wettbewerb (2017) und viele, viele weitere große und kleine Aktionen. Insbesondere das Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie („Stop Tihange“) hat immer wieder Vorträge, Informationsveranstaltungen und weitere Aktionen initiiert. Die Initiative „3 Rosen“ übergibt der belgischen Atomaufsichtsbehörde am 13. Juli 2018 eine Petition mit mehr als 500.000 Unterschriften.

Menschenkette

Die Menschenkette von Aachen nach Tihange mobilisiert 2017 mehr als 50.000 Menschen.
Die Menschenkette von Aachen nach Tihange mobilisiert 2017 mehr als 50.000 Menschen. Foto: michael jaspers

Der Höhepunkt der Proteste ist die Menschenkette am 25. Juni 2017. 50.000 Menschen demonstrieren an dem Tag gegen den Betrieb der umstrittenen belgischen Atommeiler Tihange 2 und Doel 3. Sie bildeten eine Kette vom Aachener Rathaus über Vaals und Lüttich bis zum AKW Tihange in Huy. Dass diese Aktion gelingen würde, hätten zuvor selbst die Organisatoren, das Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie gemeinsam mit den „Stop Tihange“-Partnerorganisationen in den Niederlanden und Belgien, nicht geglaubt.

Klagen

Die Städteregion Aachen reicht zwei Klagen gegen Tihange ein. Bei dem Verfahren vor dem Gericht Erster Instanz in Brüssel klagt die Städteregion Aachen 2016 mit den Bundesländern NRW und Rheinland-Pfalz, mehreren Kommunen, zwei Unternehmen und neun natürlichen Personen, darunter die Vorsitzenden der im Städteregionstag vertretenen Fraktionen. Die Kläger wollen erreichen, dass Tihange 2 stillgelegt wird. Sie begründen dies mit der persönlichen Betroffenheit im Falle eines schweren Atomunfalls. Anfang September 2020 wird diese Klage aber in Brüssel abgewiesen.

Prominente Anwältin für die Städteregion: Tinne van der Straeten hier mit dem damaligen Städteregionsrat Helmut Etschenberg (li.) und einem Kollegen, ist seit 2021 Energieministerin in Belgien für die Grünen.
Prominente Anwältin für die Städteregion: Tinne van der Straeten hier mit dem damaligen Städteregionsrat Helmut Etschenberg (li.) und einem Kollegen, ist seit 2021 Energieministerin in Belgien für die Grünen. Foto: SSV/Detlef Funken

Die zweite Klage scheitert im Dezember 2018 ebenfalls. In dem Verfahren hatte die Städteregion mit anderen Parteien vor dem Staatsrat dagegen geklagt, dass Tihange 2 trotz der Haarrisse im Druckbehälter 2015 wieder in Betrieb gegangen ist. Die Klage wird aus formalen Gründen („zu spät eingereicht“) abgewiesen.

Reaktorsicherheitskommission

Im Juli 2018 veröffentlicht unsere Zeitung exklusiv eine Studie der Reaktorsicherheitskommission (RSK), die bei Atomkraftgegnern für Aufsehen sorgt. Die Aussage des RSK-Chefs Rudolf Wieland ist, dass Tihange sicher ist.

Zur Entstehung der Risse gibt es zwei Theorien: Entweder im laufenden Betrieb der Reaktoren oder bei der Herstellung der Druckbehälter in den 70er Jahren. Letzteres fürchten Tihange-Gegner, die deshalb auch Sorge haben, dass die Risse größer werden. Wieland betont aber: Es „gibt keinen Zweifel daran, dass es herstellungsbedingte Risse sind“. Man habe damals nicht solche Untersuchungen wie heute durchgeführt, deshalb sei es möglich, dass die Behörden die Probleme mit den Schmiederingen nicht erkannt hätten. Wieland kritisiert ältere Studien, etwa die Renneberg-Studie.

Renneberg-Studie

2016 stellt der Spezialist für Reaktorsicherheit Wolfgang Renneberg seine Studie zu Tihange 2 in Aachen vor. Im Falle eines katastrophalen Unfalls im belgischen Kernkraftwerk von Tihange, bei dem große Mengen Radioaktivität aus dem Reaktor entweichen, könnten weite Teile des Rheinlandes starker nuklearer Strahlung ausgesetzt werden. Das geht aus der Studie des Instituts für Sicherheits- und Risikoforschung der Universität Wien hervor. Die Städteregion Aachen hatte die Studie in Auftrag gegeben.

Die Studie hat untersucht, wie sich eine radioaktive Wolke nach der Havarie eines Tihange-Reaktors verhält. Die Untersuchungen zeigen, dass die Region Aachen mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit von erhöhter Strahlung betroffen sei. Die Bundesregierung zweifelt die Studie 2017 an.

2018 hält Renneberg mit Kollegen der Inrag (internationale Vereinigung unabhängiger Nuklearexperten) eine Konferenz in Aachen ab. Sie alle veröffentlichen ein Manifest gegen Tihange 2 und Doel 3.

Bundesumweltministerium

Die Bundesregierung verhält sich beim Thema Tihange zunächst defensiv. 2016 bittet die damalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) Belgien aber, die „Pannen-Meiler“ vorübergehend vom Netz zu nehmen. Sie fordert weitere Untersuchungen zu den Auswirkungen möglicher Störfälle. Sie betont, dass sie die Sorgen der Menschen im Raum Aachen nachvollziehen kann. Im gleichen Jahr wird nach Bemühungen Hendricks’ eine Deutsch-Belgische Atomkommission gegründet, die am 7. Juni ihre Arbeit aufnimmt und sich regelmäßig treffen soll.

NRW und Baden-Württemberg beantragen im Februar 2019 einen Stopp der Brennelement-Lieferungen gemeinsam im Bundesrat. Hendricks’ Nachfolgerin Svenja Schulze (SPD) engagiert sich weitaus weniger in der Tihange-Frage. 2019 lässt die Bundesumweltministerin die Europäische Kommission prüfen, ob ein Exportstopp für Brennelemente möglich ist. Brennelemente aus Gronau und Lingen werden nach wie vor nach Tihange und Doel geliefert. Die Bundesregierung strebt solch einen Exportstopp inzwischen wohl nicht mehr an. Da die potenziell gefährlichen „Riss-Meiler“ vom Netz gehen, fehle ein Argument dafür, heißt es.

Aktien-Beteiligungen

Im Jahr 2017 deckt unsere Zeitung auf, dass sowohl das Land NRW als auch der Bund über die jeweiligen Pensionsfonds am Tihange- und Doel-Betreiber Engie beteiligt sind. Weil zwischenzeitlich Nachhaltigkeitskriterien festgeschrieben werden, ist das umstritten. Während das Land NRW seine Engie-Aktien bereits 2017 veräußert, dauert es beim Bund bis zum Oktober 2019. Davor stockt der Bund die Aktien sogar noch auf.

Katastrophenschutz

Die Sorge vor einem Störfall im AKW Tihange treibt die Menschen um. Was wäre denn, wenn es einen GAU gibt? Diese Fragen stellen sich ab 2015 auch der Politik in der Region. Es werden Katastrophenschutzübungen simuliert, die Städteregion Aachen plant, 38.000 FFP3-Masken für Kinder anzuschaffen, an den Schulen wird die Verteilung solcher Masken debattiert. Im März 2017 verteilen die Stadt und Städteregion Aachen und die Kreise Düren, Heinsberg und Euskirchen eine 24 Din-A-4-Seiten starke Broschüre im Rahmen des Katastrophenschutz-Plans an die Bevölkerung. Doch viele Fragen, insbesondere was bei einem GAU mit Schul- und Kita-Kindern passiert, bleiben offen.

Jodtabletten

Am 1.September 2017 beginnen die Städteregion Aachen, der Kreis Düren und der Kreis Heinsberg damit, Jodtabletten an die Bevölkerung zu verteilen. Menschen bis einschließlich 45 Jahre und alle Schwangeren und Stillenden haben ein Anrecht auf einen Bezugsschein. Das sind insgesamt gut 600.000 Menschen in der Region. Allein in der Region Aachen nehmen mehr als 120.000 Menschen das Angebot an.

Ende 2021 sind die 2017 verteilten Jodtabletten laut Packungsbeilage abgelaufen. Die Städeregion Aachen entscheidet sich dennoch dagegen, neue Jodtabletten zu verteilen. Denn: Jodtabletten können faktisch nicht ablaufen. Außerdem hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) den deutschen Vorrat an Jodtabletten auf 189,5 Millionen aufgestockt. Die Städteregion Aachen sieht die Versorgung deshalb als gegeben an.

Die Belgier

In Belgien gibt es lange kaum Interesse für das Thema. Die Deutschen sollen sich doch bitteschön nicht in belgische Energiepolitik einmischen, ist der Tenor. Und überhaupt sei die Braunkohle in NRW viel schlimmer als die belgischen Atomkraftwerke es seien, wird dann oft nachgeschoben. Menschen wie Léo Tubbax, Kämpfer an vorderster Front gegen Tihange, sind in der Minderheit. Aber mit der Zeit wächst auch in Belgien der Protest. Bei der Menschenkette im Jahr 2017 beteiligen sich auch viele Belgier. Der belgische Schauspieler Bulli Lanners wirbt für die Aktion und schafft Aufmerksamkeit für die Sorge wegen der „Riss-Meiler“. Die öffentliche Meinung zur Kernenergie ist aber zu keinem Zeitpunkt so negativ wie in Deutschland. 43 Prozent der Belgier wollen auch im Jahr 2022 eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten, wie eine Umfrage ergibt. 73 Prozent wünschen sich einen Mix aus Atomstrom und Erneuerbaren.

Belgische Regierung

Die belgische Regierung hält lange an der Kernenergie fest. 2003 beschließt das Land zwar den Atomausstieg, aber es geschieht nichts. Der Ausstieg aus der Kernenergie wird schlichtweg nicht vorbereitet. Da konservative Parteien – allen voran die NVA, die ohnehin für längere Laufzeiten der Atomkraftwerke sind –, bewegt sich wenig. Da die öffentliche Meinung diese Politik nicht kritisiert, kann die belgische Regierung lange daran festhalten. Erst mit der Wahl im Jahr 2019, aus der im September 2020 die Vivaldi-Koalition unter Beteiligung der Grünen hervorgeht, bewegt sich etwas. Die Regierung steht zu dem Atomausstieg im Jahr 2025. Doch angesichts des Ukraine-Krieges und der damit verbundenen Sorge vor Strom-Engpässen werden zwei Meiler länger am Netz bleiben.

Laufzeiten der AKW

Belgien hat zwei Atomkraftwerke; eines in Doel bei Antwerpen und das andere in Tihange in Huy. Am Standort Doel gibt es vier Kernreaktoren. Am Standort Tihange sind es drei Meiler. Alle Meiler haben zunächst eine unbefristete Betriebsgenehmigung. Mit dem Gesetz über den Atomausstieg aus dem Jahr 2003 aber beschließt die Regierung eine Laufzeitbegrenzung auf 40 Jahre.