Razzia am Niederrhein : Schimmel, Schädlinge, schäbige Abzocke von Leiharbeitern
Geldern In Deutschland sind Werkarbeitsverträge in der Fleischindustrie inzwischen verboten. In den Niederlanden nicht. Eine Razzia am Niederrhein direkt hinter der Grenze offenbart, dass Ausbeutung keine Grenzen kennt.
Dass in dem kleinen Weiler etwas Ungewöhnliches vorgeht, ist schon aus der Ferne zu sehen. Vor dem in einer Kurve gelegenen, heruntergekommenen, rot-grauen Häuserkomplex parken Polizeibullis soweit das Auge reicht. Dazwischen Feuerwehr- und Ordnungsamtsfahrzeuge. Mit blinkenden Signallichtern werden Autofahrer zur Vorbeifahrt im Schritttempo angehalten.
Vor allen Eingängen des Hauses haben sich Polizisten postiert. Im Gebäude herrscht reges Treiben. Der Staat zeigt an diesem Wochenende Härte. In einer konzertierten Aktion gehen die Behörden gegen diejenigen vor, deren Geschäftskonzept die Ausbeutung osteuropäischer Arbeiter ist.
Schon 2019 war der Gelderner Ordnungsamtsleiter Johannes Dercks beim Land vorstellig geworden und hatte auf die Situation hingewiesen. Werkvertragsnehmern und Leiharbeiter überwiegend aus Polen, Rumänien und Bulgarien werden für niedrigste Löhne in der niederländischen Fleischindustrie eingesetzt. Weil die Regeln zur Unterbringung dort rigider sind als hierzulande, werden die Menschen über die Grenze gefahren und in Sammelunterkünften untergebracht.
Etwa 2000 Menschen, so schätzt es das Land, sind im Raum Geldern und Emmerich untergebracht. Sowohl für die Fahrt als auch das Bett in den heruntergekommenen Gebäuden verlangen die Unternehmen einen Großteil des Lohnes. Die Fleischindustrie in NRW hatte lange ähnlich operiert. Doch nach den Corona-Ausbrüchen bei Westfleisch und Tönnies verbot die Politik Leiharbeit und Werkverträge in der Branche. An dem System in den Niederlanden wurde nichts geändert. Das Ergebnis ist bei der Razzia in sechs Gebäuden auf deutscher Seite zu beobachten: Schimmel und Schädlingsbefall in den Unterkünften, Mängel beim Brandschutz und der Stromversorgung und Hygieneverstöße.
Eine dunkle Limousine fährt vor und eine Frau im beigen Mantel steigt aus. NRW-Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) macht sich vor Ort ein Bild der Lage. Und davon, wie gut ein neues Gesetz aus ihrem Hause greift. Im Juli 2021 trat das Wohnraumstärkungsgesetz in Kraft, das den kreisangehörigen Gemeinden mehr Möglichkeiten gibt, bei solchen Immobilien tätig zu werden. Vorher waren allein die Kreise beim Thema Bauaufsicht zuständig. Es sei die erste Razzia dieser Art mit Hilfe des neuen Gesetzes, sagt Scharrenbach.
Neben der Ministerin steht Sven Kaiser (CDU), Bürgermeister von Geldern: „Die Menschen, die hier leben, sind das letzte Glied der Kette. Aufgrund der Sprachbarrieren haben sie oft ihre Ausweise nicht mehr. Die sind in Situationen, aus denen sie nicht mehr rauskommen.“ Schon vor einem Jahr war die Stadt vor Ort. Damals habe man sich mit dem Baurecht beholfen und eine Etage versiegelt, sagt Ordnungsamtsleiter Dercks. Unter dem Dach lebten 18 Menschen „in einem Verschlag“. Es war ein Nadelstich, mehr nicht. „Hier wohnen sonst 30 bis 40 Menschen“, erläutert Dercks. „Wenn in einem Raum mehr als zwei Leute wohnen und nicht verwandt sind, ist es Beherbergung. Die Türen sind durchnummeriert. Das hat Hotelcharakter.“ Scharrenbach nickt: „Dann haben wir ja Ansatzpunkte.“
Zu viele Menschen, zu wenig Raum
Die Bewohner des Hauses, überwiegend Rumänen, wirken eingeschüchtert und rücken in den Gemeinschaftsräumen eng zusammen. Das Mobiliar ist wild durcheinandergewürfelt, es riecht muffig nach zu vielen Menschen auf zu wenig Raum. Nicht alle Bewohner haben die Behörden an diesem Mittag angetroffen. Zwei Bullis sind zum Einkauf gefahren.
Silke Gorißen (CDU), Landrätin des Kreises Kleve, läuft mit einer Polizeiweste durch das Gebäude und versucht sich an einem Gespräch mit einer jungen Frau: „Arbeiten alle hier in Holland?“ – „Ja.“ – „In einem Schlachthof?“ – schweigendes Schulterzucken. Vor allem die Sprachbarriere, aber auch die Abschottung der Menschen durch die Arbeitgeber macht es denen leicht und den Behörden zu schaffen.
Vor dem Gebäude wurde ein behelfsmäßiges Zelt aufgebaut. Dort kontrolliert das Ordnungsamt Ausweispapiere und macht Fotos von Miet- und Arbeitsverträgen. Zwei Männer mit Jacken des niederländischen Arbeitsschutzes sind ebenfalls vor Ort. Der Hinweis auf das Objekt stammt aus dem Nachbarland. Dort hatte im Dezember eine Buchprüfung bei dem Unternehmen Horizon Meat Services (HMS) stattgefunden. Die Daten werden nun abgeglichen.
Dem Mutterkonzern, der Horizon-Gruppe, der auf seiner Website mit dem Slogan wirbt, „ein bekannter Name auf dem Markt“ zu sein, und seine Tochter HMS als „führender Dienstleister bei der Rekrutierung und dem Einsatz von Zeitarbeitskräften“ bewirbt, dürfte die Aufmerksamkeit dies- und jenseits der Grenze nicht angenehm sein. So soll die Immobilie in Geldern einem angestellten Geschäftsführer von HMS gehören. All dies dürfte nun intensiv beleuchtet werden. Im Raum steht der Verdacht, das Krankenversicherungsbestimmungen in den Niederlanden missachtet wurden.
Ein verrottender Schweinekopf
Johannes Dercks steht mit einem Funkgerät vor dem Haus. Gerade teilt ihm ein Kollege mit, dass die Mitarbeiter in einem zugesperrten Raum ein Geräusch gehört haben. „Ist denn da eine Person drin? Ist da ein Schloss dran, oder kann man das öffnen? Versucht es erst einmal normal zu öffnen. Und ansonsten: Wir wenden heute keine Gewalt an. Es wird nicht aufgebrochen, es sei denn Ihr hört, dass da ein Mensch drin ist.“
Akkribisch gehen die Behörden an diesem Tag vor. In einem Verschlag finden sie allem Anschein nach einen verrottenden Schweinekopf. Ein Verstoß gegen die ordnungsgerechte Entsorgung. Im Garten neben dem Haus ist ein Hundeführer der Polizei mit seinem Spürhund im Einsatz. Die Feuerwehr ist mit dabei, um den Brandschutz zu untersuchen. Auch sie wird an diesem Tag fündig.
Nach Abschluss der Aktion erklärt das Ministerium, einen Teil der Unterkünfte zu schließen. Am Ende des Einsatzes wird Scharrenbach gefragt, wie sie diesen bewerte. Scharrenbach denkt nach und antwortet dann: „Es ist eines der Häuser, die man in NRW nicht braucht.“