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Über 600.000 Euro veruntreut: Sachverständiger hält Ex-Beamten für schuldfähig

Über 600.000 Euro veruntreut : Sachverständiger hält Ex-Beamten für schuldfähig

Waren eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und Kaufsucht die Gründe, warum sich Carsten E. um fast 600.000 Euro an der Gemeinverwaltung Hürtgenwald bereicherte? Ein Sachverständiger hat dazu vor Gericht große Zweifel geäußert.

Die Frage nach der Schuld muss Richterin Melanie Theiner nicht mehr beantworten. Carsten E. hat bereits eingeräumt, von 2013 bis 2017 insgesamt 612.000 Euro aus der Kasse der Gemeinde Hürtgenwald veruntreut zu haben. Am gestrigen Mittwoch war daher der Psychiater Henning Saß der wohl entscheidende Zeuge vor der 9. Großen Strafkammer am Aachener Landgericht. Der renommierte Professor trat als Sachverständiger auf. Saß sollte darlegen, ob die Diagnosen narzisstische Persönlichkeitsstörung und Kaufsucht die Gründe waren, warum sich der 40-jährige ehemalige Beamte der Hürtgenwalder Kämmerei derart an Steuergeldern bereichert hat. Denn attestierte Krankheiten verringern juristisch gesehen die Schuldfähigkeit – und mildern unter Umständen das Strafmaß.

Saß teilt die Ansicht der den Beschuldigten betreuenden Therapeuten nicht. Der Facharzt für Forensische Psychiatrie an der Uniklinik Aachen sieht bei Carsten E. keine narzisstische Persönlichkeitsstörung, weil dieses Krankheitsbild bereits in der Kindheit auftrete und sich in mehreren Bereichen zeige, was bei E. jeweils nicht der Fall sei. Dass E. auch nicht an Kaufsucht erkrankt sei, begründet Saß damit, dass die Taten des Angeklagten nicht auf ein „Impulsverhalten“ wie bei der Kleptomanie zurückzuführen seien, sondern E. gezielt gehandelt habe. „Er musste nicht, er hat getan. Fast kein Delikt ist ein Muss.“

Außerdem, so schilderte es Saß, habe er beim Angeklagten keine schweren Verhaltensauffälligkeiten festgestellt, wie sie etwa bei der Spielsucht auftreten. „Eine Sucht hat Einfluss auf viele Bereiche der Lebensführung, das ist hier nicht der Fall, denn Eltern, die Ehefrau und auch die Arbeitskollegen haben nichts mitbekommen, keine Veränderung gesehen“, erklärte Saß nach der Anhörung mehrerer Zeugen. Und: Ein Blick auf die Fälle zeige, dass er im Laufe der Jahre häufiger gegen das Gesetz verstoßen habe, und es insbesondere am Ende nicht bei Käufen hochwertiger Ware blieb: Carsten E. habe sich „intelligent und geschickt“ verhalten und so zunehmend Bargeld beschafft. Auch sei es – wie in der Anklage steht – nicht bei Käufen mit gefälschten Rechnungen geblieben, E. habe vielmehr auch Atteste und ein Diplom gefälscht. E. sei ein Hochstapler und Betrüger, erklärte Saß.

Forensiker gehen tiefer

Wie kommt Saß zu einer anderen Erkenntnis als die Therapeuten? Sie „haben einen Hilfeimpuls, aber wenn man es dabei belässt, tut man einem keinen Gefallen, weil man kritisch fragen und einen Patienten konfrontieren muss“, betonte der Psychiater. Saß erläuterte auch, dass das Bild, das Carsten E. während der Gespräche und im Prozess von sich und seinem Krankheitsbild zeichnet, eine Folge der Therapiegespräche seien. E. war nach der Trennung seiner ersten Frau 2006 und ist seit seiner U-Haft 2018 in Therapie. Für den Tatzeitraum habe Saß keine Auffälligkeiten wie depressives Verhalten ausgemacht. Ebenfalls hätten die Therapeuten weniger exakte Begriffe für Krankheitsbilder wie er als forensischer Psychiater: „Der Begriff Sucht wird heutzutage inflationär genutzt.“

Der Anwalt des Angeklagten betonte, er könne die Ausführungen von Henning Saß nicht vollständig nachvollziehen. Daher beabsichtigt er, auch die Therapeuten anhören zu lassen, die Carsten E. behandeln und genannte Diagnosen gestellt haben. Der Prozesstag wird am 29. Juli fortgesetzt.