Prozess um Tod von Säugling Ben : Rechtsmediziner sieht keine Beweise für Gewalt am Baby
Aachen/Alsdorf Vor dem Aachener Schwurgericht zeichnet sich im Prozess um den Tod des Säuglings Ben aus Alsdorf ein „Gutachterkrieg“ ab. Ein zweiter Rechtsmediziner widersprach am Donnerstag dem Ergebnis der Obduktion, das den Vater belastet hatte.
Die Kammer unter Vorsitz von Richterin Judith Sander beschloss nach der Anhörung des von der Verteidigung ins Verfahren gebrachten Münsteraner Rechtsmediziners Professor Bernd Brinkmann, die Expertise eines weiteren, dritten Gutachters einzuholen. Dann soll kein Rechtsmediziner, sondern ein pädiatrischer Neurochirurg gehört werden, erklärte die Vorsitzende.
Die Ausführungen des Rechtsmediziners Brinkmann begannen leise. Der 80-jährige Experte kam mit einer Reisetasche voller Akten in den Saal des Aachener Schwurgerichts und stand sodann Rede und Antwort zu seinem bereits schriftlich vorgelegten Gutachten. Darin geht Brinkmann anders als in dem bislang führenden Kölner Obduktionsgutachten keineswegs von einem Einwirken „massiver Gewalt“ auf den Kopf des sechseinhalb Monate alten Babys aus.
Diese Einschätzung würde für den Angeklagten sprechen. Dem Vater wird vorgeworfen, den Tod seines Kindes, das am Morgen des 9. März in den Händen des Notarztes starb, mit Einwirkung „massiver Gewalt“ verursacht zu haben. Der 37-jährige Stefan P. bestreitet demgegenüber bislang jegliche Gewaltanwendung gegen das Kind nachdrücklich.
Für den Münsteraner Rechtsmediziner entspricht das von den Kölner Kollegen in ihrem Bericht beschriebene Verletzungsbild eher einem – wodurch auch immer ausgelösten – Sturz des Kindes aus geringer Höhe. Der bedauerliche Vorfall passe durchaus zu Stürzen aus dem Bereich sogenannter Low Falls, das ist der Fachbegriff für Unfälle, bei denen Kinder sich Schädelbrüche oder auch tödliche Verletzungen beim Fall aus geringer Höhe von um die 60 Zentimeter zuziehen, sagte der Rechtsmediziner. Seine Auffassung belegte er mit Hilfe einer Liste zahlreicher Studien.
Der Mediziner deutete genau das, was die Kölner Rechtsmedizinerin Sibylle Banaschak als Belege für die Anwendung massiver stumpfer Gewalt nannte, völlig anders. So sei das beschriebene Verletzungsbild am Kopf und insbesondere am Gehirn nicht mit dem Einwirken massiver Gewalt in Einklang zu bringen, sondern deute viel eher auf einen unvermuteten Sturz hin.
Die Argumentation der Kölner Rechtsmedizinerin, der Schädelbruch sei von massiver Gewalt hervorgerufen worden, weil man dies mit der zerrissenen Schädelnaht des Kleinkindes belegen könne, lehnte der neue Gutachter ab. Er hielt dem Kölner Gutachten die Auffassung entgegen, dass selbst bei einem „nur“ linearen Schädelbruch die Schädelnaht „leicht zerreißt“, die Kölner Rechtsmedizinerin hingegen hatte gerade die Ruptur der Schädelnaht als Indiz für starke Kräfte, wie sie etwa bei einem Schleudern des Kinderkörpers gegen eine Wand entstehen, ins Feld geführt.
Mehrfach ging der Gutachter auf de Gesamtzustand des Kindes ein. Nach seinem Dafürhalten war Bens Kopf besonders empfindlich, weil der Junge von Geburt an einen abgeflachten Hinterkopf und einen Schiefstand der Schädelknochen hatte. Das erhöhe das Bruchrisiko, sagte Brinkmann.
Auch Brinkmann hatte sich ein vom Vater gemachtes Handy-Video vom nächtlichen Zustand des Kindes angesehen. Danach wollte der Mediziner nicht ausschließen, dass das Kind nachts möglicherweise einen epileptischen Anfall durchlebt und sich so, dem Tode nah, bis in den frühen Morgen dahingeschleppt hatte. Der Vater rief gegen 9 Uhr den Notarzt, der das Kind nicht mehr retten konnte.
Trotz der Gutachterdifferenzen bleibt selbstredend die Existenz des Schädelbruches ungeklärt. Es sei heute Stand der Wissenschaft, sagte Brinkmann, dass auch unbemerkte Stürze der Kinder aus geringen Höhen weitaus öfter Schädelbrüche bewirken, als früher im Allgemeinen angenommen.