Aachen : „Pulse of Europe“: Die schweigende Mehrheit wird laut für Europa
Aachen Das kleine Grenzhäuschen gehörte zu Tobias Ruofs Kindheit wie der Bodensee zu Konstanz. Immer wenn er von seinem Heimatort aus einen Ausflug in die benachbarte Schweiz machte, musste er das Haus passieren, der Zoll war stets besetzt — die Schweiz trat erst 2008 dem Schengener Abkommen bei. Auch heute, rund 400 Kilometer Luftlinie entfernt, und längst erwachsen geworden, überschreitet Ruof regelmäßig Grenzen.
Der 30-Jährige merkt es nur nicht. Die Promotion in Maastricht, der Wohnsitz in Aachen. Alles kein Problem. Schengen und der EU sei Dank. Es ist eine Errungenschaft, die Ruof nicht missen will. Ein Grund dafür, dass er sich der Initiative „Pulse of Europe“ (PoE) angeschlossen hat.
Die pro-europäische Bürgerbewegung wächst und wird auch in Aachen immer lauter. Seit die Bewegung im vergangenen November auf Initiative von Daniel und Sabine Röder in Frankfurt am Main gegründet wurde, haben sich ihr mehr als 60 Städte in acht Ländern angeschlossen. Jeden Sonntag gehen die Aktivisten auf die Straße und demonstrieren für ein vereintes, demokratisches Europa.
Vergangenen Sonntag waren es mehr als 20.000 Demonstranten in ganz Europa. In Aachen treffen sie sich seit vier Wochen auf dem Katschhof. Erst nahmen 200, dann 500, dann 900 Menschen teil, die große blaue Flaggen für ihr Europa schwenken. Am Sonntag wird es das vierte Mal sein, dass der Puls Europas in Aachen schlägt.
Friedrich Jeschke ist von Anfang an dabei. Er gehört zum Gründungsteam der Ortsgruppe. In Aachen existiert PoE seit Mitte Februar; es ist der einzige Ableger in der Region. Als Jeschke Ende 2016 von der Bürgerbewegung las, war für ihn schnell klar, dass er den europäischen Gedanken auch in Aachen auf die Straße bringen will. Im Internet bloggt er schon länger zu Europa-Themen.
„Europa ist für mich ein Friedensprojekt und ein Zukunftsprojekt“, sagt der 33-jährige Verkäufer aus Aachen. Etwas, wofür es sich zu streiten lohnt. Er nahm Kontakt zu PoE in Frankfurt auf und wurde mit anderen Interessenten aus Aachen zusammengebracht, die zeitgleich ihr Interesse an der Bewegung geäußert hatten. Mit zehn Leuten begann die Bewegung in Aachen, mittlerweile besteht das junge Organisationsteam aus bis zu 20 Frauen und Männern. Die meisten von ihnen sind Ende 20 oder Anfang 30.
Auf dem Katschhof spiegelt sich diese Altersstruktur allerdings nicht wider. Das Publikum dort ist zum Großteil älter, auch Familien kommen her. Für viele junge Leute sei Europa selbstverständlich, sagt Tobias Ruof. „Und für eine Selbstverständlichkeit geht man nicht auf die Straße.“
Vereinzelt findet man sie aber doch in den Reihen — die jungen Menschen der Region: Für den 25-jährigen Sven Topczewsk, der eine große Europaflagge wie den Umhang eines Superhelden trägt, ist Europa eine Herzensangelegenheit. „Es ist ein großartiges Geschenk, dass wir seit so langer Zeit in Frieden leben“, sagt er. „Ich möchte nicht zulassen, dass andere Menschen das kaputtreden.“
So geht es offenbar vielen Europäern. Doch gehört wurden sie in der Vergangenheit selten — bis „Pulse of Europe“ ins Leben gerufen wurde. Die „schweigende Mehrheit“, wie Mitorganisator Joachim Sina sie nennt, wird laut. Und die Menschen auf dem Katschhof applaudieren euphorisch, wenn die Redner für Europa sprechen.
Doch ein paar schöne Worte allein reichen nicht aus. Bei den wöchentlichen Treffen des Organisationsteams in der Burg Frankenberg in Aachen wird deutlich, wie viel Aufwand hinter den Demos steckt. Es geht ans Eingemachte. Was lief am zurückliegenden Sonntag gut? Was kann man verbessern? Wer organisiert die Technik und die Musik? An diesem Dienstagabend geht es um Flyer, blaue Luftballons in Europa-Optik — und ein gelbes T-Shirt mit dem Logo von „Pulse of Europe“, das vielleicht doch lieber in „Europa-blau“ bestellt werden sollte.
Die Optik zählt. Denn das, was die Aktivisten kreieren wollen, sind Bilder von Tausenden Menschen, die Flagge zeigen. Bilder, die in der Zeitung und in der Tagesschau erscheinen. Bilder, die ein Gegenbild zur Montagsdemonstration von „Pegida“ schaffen. Aufmerksamkeit, das ist das Ziel.
Ganz schön viel Arbeit für ein Bündnis, mit dem viele Menschen fremdeln. Die Ängste derer, die in unsicheren Zeiten versuchen, Halt im Nationalismus zu finden, könne Jeschke zum Teil verstehen. Doch seiner Meinung nach driften sie in die falsche Richtung ab, aus mangelndem Vertrauen in die Politik und aufgrund falscher Fakten.
Der Einschätzung des Soziologen Simon Teune von der Technischen Universität Berlin, dass PoE strukturelle Probleme der EU „mit einer Europa-Euphorie überblendet“, widerspricht er hingegen. Kritik an der EU sei durchaus vorhanden, vieles müsse verbessert werden. „Doch nur weil einige handelnde Personen nicht überzeugen, heißt das ja nicht, dass das Gebilde Europas falsch ist.“
Gerade in der positiven Form des Protests sieht Jeschke die Stärke der Bürgerbewegung. „Wenn man nur krakelt, wird man nicht gehört.“ Und deshalb wird „Pulse of Europa“ auch am Sonntag wieder in Aachen auf den Katschhof gehen, um ein Zeichen zu setzen. Für Europa — und nicht gegen seine Feinde.