Unicef : Nothilfe für Millionen ukrainische Kinder
Interview Lwiw, Ukraine Gewalt, Trennungsschmerz, Angst: Für Kinder ist der Ukraine-Krieg besonders traumatisch. Michaela Bauer, stellvertretende Leiterin von Unicef Ukraine erklärt, wie das Kinderhilfswerk in dieser Notsituation helfen kann, und was es dafür dringend braucht.
Anfang der Woche wurde das Unicef-Büro in Kiew evakuiert. Michaela Bauer, stellvertretende Leiterin von Unicef Ukraine, ist mit Kollegen und deren Familien im Auto aus der Hauptstadt geflohen. Mehrere Tage dauerte die Fahrt, bis sie in der neuen Unicef-Basis in Lwiw ankamen. Unterwegs sahen sie ein Land im Ausnahmezustand - ein Land im Krieg. Unserer Redakteurin Ines Kubat hat sie per Sprachnachricht einige Fragen zur aktuellen Lage beantwortet.
Was haben Sie auf dem Weg in Richtung Westen wahrgenommen?
Michaela Bauer: Wir haben ein Land im Krieg gesehen, in dem Familien, vor allem Frauen und Kinder auf der Flucht sind. Viele Städte sind jetzt umzingelt. Eine normale Kindheit ist nicht mehr möglich. Die Bevölkerung braucht dringend Hilfe, die sie momentan nicht erreichen kann. Dafür brauchen wir eine Waffenruhe, eine Feuerpause, um alle Familien und Kinder mit dringend benötigter Hilfe zu erreichen.
Wie ist die Situation für die Kinder derzeit?
Bauer: Sehr belastend und sehr traumatisierend. Momentan herrscht für die Kinder die Angst vor, weil der Alltag sehr militarisiert ist. Auf den Straßen sind überall Checkpoints mit schwer bewaffneten Männern. All dies hat einen großen Einfluss auch auf Kinder. Es gibt Städte, die seit vier oder fünf Tagen ständig unter Beschuss sind. Die Familien und Kinder harren tagelang in Bunkern oder Luftschutzkellern aus. Das sind sehr, sehr schlimme Erfahrungen. Nicht nur, weil die Mädchen und Jungen aus ihrem normalen Rhythmus rausgerissen werden, sondern auch, weil ihre Familien oft auseinandergerissen sind. Die Väter bleiben meist zurück, um die Stellung zu halten. Die dürfen ja auch gar nicht außer Landes reisen. Das heißt, dass es oft Frauen und Kinder sind, die Hilfe und sichere Orte suchen. Für die Kinder ist es sehr, sehr schwierig.
Was brauchen sie jetzt am meisten?
Bauer: Am allermeisten brauchen sie Frieden; eine Feuerpause, um die ständige Angst vor den Sirenen und dem Krieg zu unterbrechen. Aber auch, damit sie wieder ein kleines bisschen normalen Alltag haben können.
Und was braucht Unicef für seine Arbeit?
Bauer: Dasselbe. Wir brauchen dringend Frieden, oder zumindest einen Waffenstillstand, damit die Städte, die momentan von der Außenwelt abgeschnitten sind, erreicht werden können.
Die Frage, die sich viele Menschen hier in Deutschland stellen: Was kann ein Hilfswerk wie Unicef vor Ort jetzt überhaupt tun, mitten in den Wirren des Krieges?
Bauer: Wir arbeiten schon im ganzen Land mit unseren Partnern aus zivilen Organisationen, NGOs und auch den Gemeinden daran, die ganz dringenden Bedürfnisse der Menschen zu decken. Wir unterstützen zum Beispiel diejenigen, die versuchen die Grenze zu erreichen mit Transportmöglichkeiten. An der Grenze selbst warten dann vor allem Frauen und Kinder viele Stunden. In dieser Situation versorgen wir sie unter anderem mit Wasser, Nahrung, aber auch psychosozialer Betreuung.
Das klappt schon wieder?
Bauer: Ja, hier im Westen schon. Aber wir müssen dringend die Situation in den Städten und Teilen des Landes verbessern, wo der Konflikt momentan am stärksten ist. Deshalb brauchen wir humanitäre Korridore, um Hilfsgüter dorthin zu bringen, und damit unsere Partner vor Ort wieder arbeiten können.
Was braucht es in diesen Teilen des Landes jetzt?
Bauer: Wir müssen zunächst die Grundbedürfnisse im Bereich „Gesundheit" decken. Die ersten Hilfsgüter, die am Freitag angekommen sind, versuchen wir so schnell wie möglich zu mehr als 100 Krankenhäusern zu bringen. Und wir versuchen, die Städte dabei zu unterstützen, die normale Grundversorgung wiederherzustellen. Wir haben da ein weites Netzwerk in den verschiedenen Gemeinden, auf das wir jetzt zurückgreifen.
Welche Art von Hilfsgütern sind angekommen?
Bauer: Vor allem medizinische Hilfsgüter, die unsere Kollegen aus dem zentralen Warenlager im dänischen Kopenhagen auf den Weg geschickt haben. Darunter sind aber auch Sets für die Wasserversorgung und Nothilfe-Pakete. Diese ersten Hilfsgüter sind für das Zentrum und den Osten des Landes bestimmt. Also die Gebiete, die am meisten betroffen sind. Hier im Westen gibt es natürlich auch Bedürfnisse durch die Flüchtlingsbewegung, aber die Versorgungsketten sind im Moment noch stabiler aufgestellt, als in anderen Teilen des Landes.
Was genau sind das für Partner in der Ukraine, mit denen Unicef zusammenarbeitet?
Bauer: Das reicht von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) bis zu unserem Netzwerk von freiwilligen Organisationen. Wir arbeiten sehr viel mit jungen Leuten zusammen, weil es in der Ukraine viele Jugendorganisationen gibt, die uns als Freiwillige unterstützen. Ganz wichtig für uns sind vor allem jetzt auch die Partnerschaften vor Ort mit den Gemeinden.
Wie ist denn die Situation in der neuen Unicef-Basis in Lwiw?
Bauer: Hier im Westen funktioniert die Grundversorgung noch relativ gut. Dadurch können wir die ankommenden Hilfsgüter über unsere Logistik-Partner im Land verteilen. Da hilft uns das eben erwähnte Netzwerk, das wir aktiviert haben. Nur so können wir so schnell wie möglich unbürokratische Hilfe leisten.
Was tun Sie denn für die Kinder, die jetzt im Westen des Landes sind?
Bauer: Unter anderem haben wir besprochen, wie wir jetzt vor allem Kinder und Frauen zur Grenze bringen können. Wir wollen aber zum Beispiel auch Zentren aufbauen, in denen Kinder spielen und das tun können, was sie am allermeisten mögen: Einfach Kind sein.
Was können wir hier in Deutschland und in den Nachbarländern tun?
Bauer: Die Menschen können sich nach wie vor für Frieden einsetzen, was sie ja auch ganz lautstark in Deutschland und in anderen Ländern getan haben. Die Menschen können sich als Freiwillige engagieren. Das sehen wir auch in den Nachbarländern der Ukraine. Und man kann natürlich die Organisationen unterstützen, die hier vor Ort agieren, und damit den Zugang zu humanitärer Hilfe ermöglichen.