Krippenspiel wird märchenhaft : Schneewittchen bei den Laubfröschen
Hückelhoven Eigentlich sollte es ein Krippenspiel werden, dann wird es märchenhaft. Wie man mit weihnachtlichen Erwartungen umgeht, kann man beim Natur- und Waldkindergarten in Hückelhoven-Doveren lernen. Und auch, wie eine Europalette zur Bühne wird.
Schneewittchen hat ganz schön viel Matsch an den Stiefeln. Eysan, so heißt das Schneewittchen, liegt auf einer alten Europalette im Wald und stellt sich schlafend. Die sieben Zwerge – okay, gerade ist es nur ein Zwerg, genauer die Zwergin Johanna – sitzen hinter Eysan. Die Proben zum Weihnachts-Theaterstück haben ja auch gerade erst begonnen. Da gibt es noch ein bisschen Verwirrung, was die Rollenverteilungen anbelangt. Eysan ist stolz, dass sie das Schneewittchen sein darf. „Aber eigentlich wäre ich noch lieber Rapunzel“, sagt sie, „wegen den langen Haaren“.
„Ich bin der Wolf“, sagt Arian. „Einen Wolf gibt es gar nicht in der Geschichte“, wirft Frida ein. Die Fünfjährige hat den Durchblick. Nicht nur im Stück, wo sie den Spiegel der bösen Königin spielt, sondern auch sonst. Sie könnte die Regisseurin sein, kennt jeden Einsatz und jede Rolle. Emil soll der König sein, wäre eigentlich lieber Zwerg, zum Schluss wird er Jäger und ist sehr zufrieden damit. „Welche Rolle spielst du denn?“, fragt die Leiterin Andrea Lobach. Ben: „Keine Ahnung!“ Arian mimt den Königssohn, aber bei dem Satz „Darf ich Schneewittchen mitnehmen? Ich habe mich verliebt“ verschlägt es ihm die Sprache und er tauscht die Rolle mit Ben, der nun eigentlich als König auserkoren war.
Die Laubfrösche
Wir sind im Natur- und Waldkindergarten in Hückelhoven-Doveren. 22 Kinder zwischen drei und sechs Jahren bilden hier die Laubfrösche. Seit fast 20 Jahren gibt es den kleinen Natur- und Waldkindergarten als Elterninitiative.
Direkt hinter der Grundschule von Doveren haben sie seit einigen Jahren auch ein solide gebautes Holzhaus mit Gruppenraum, Toilette und kleiner Küche. Doch hier drin sind sie nur zu wenigen Gelegenheiten am Tag, eigentlich nur zum Mittagessen, das die Laubfrösche im Sommer wegen der Wespen, im Winter wegen der Kälte drinnen einnehmen.
Ansonsten sind sie draußen, jeden Tag und bei jedem Wetter, bei Regen, Schnee oder Sonne. Dort haben sie ihr eigenes kleines Spielgelände mit Tipi, mit Gemüsebeet, mit Erdhügel, aber eigentlich ist ihr Reich so groß und weit, wie ihre Füße sie tragen.
Jeden Morgen in den Wald
Jeden Morgen macht sich die Truppe aus den 22 Kindern und den drei Erzieherinnen und Erziehern Andrea Lobach, Maya Perske und Sebastian Hasse mit einem Bollerwagen auf und erkundet den Wald, das Dorf, den Spielplatz oder die Sportbahn, die direkt nebenan liegt und wo man sich auch aufhalten kann, wenn es für den Wald zu stürmisch ist.
Ein Kind, das morgens ausgelost wird, darf bestimmen, wo es hingeht. Die Plätze der Laubfrösche haben alle eigene Namen, die auch die Kleinsten schon kennen: Heute darf Hannah entscheiden. Sie will zum Rutschberg, einem hügeligen Gelände, das direkt unterhalb des Fußballplatzes in Doveren liegt. Also wird der Bollerwagen mit ein paar Wechselklamotten, einem Wassersack zum Händewaschen, mit Seife, mit Klopapier, aber auch mit Stiften und Büchern geschnappt: auf zum Rutschberg! Auch wenn die Kinder den Weg in- und auswendig kennen, holen sie, als sie ihr Gelände verlassen, sofort die Lupen heraus und untersuchen jeden Käfer an einer Baumrinde.
Auf den ersten Erwachsenen-Blick ist der Rutschberg nichts Besonderes, eher ein größeres Gebüsch als ein Wald.
Ein bisschen Enttäuschung macht sich bei uns breit: Wir besuchen die Laubfrösche, weil wir gehört haben, dass hier ein Krippenspiel aufgeführt wird, mitten im Wald. Das hört sich urig an und ist vor allem in Corona-Zeiten eine ziemlich sichere Sache. Als Zeitung haben wir da Vorstellungen, wie ein Krippenspiel im Wald aussehen könnte: ein Winterwald, vielleicht eine kleine Höhle, ein Leuchtstern über dem Eingang. Kinder, in Lammfelle gehüllt, spielen Schafe. Die Heiligen Drei Könige kommen in bunten Gewändern aus einem Dickicht. Zwei Vorschulkinder als Maria und Josef, die andächtig um eine aus Ästen gebauten Wiege stehen. Im Idealfall würde es vielleicht auch noch etwas schneien.
So war der Plan und die Erwartung. Doch statt des Krippenspiels, so erfahren wir vor Ort, wird Schneewittchen gegeben. Schneewittchen? Märchen waren dieses Jahr Kindergartenthema, aber wegen Corona konnte die geplante Aufführung im Frühjahr nicht stattfinden. „Weil die Kinder das Stück trotzdem noch spielen wollten, machen wir daraus ein Weihnachtsstück“, erklärt Lobach.
Es hat viel geregnet die vergangenen Wochen, der Rutschberg, dieses Gelände mit Hügeln und ein paar Bäumen ist matschig. Hier wollen sie ihre Aufführung proben? Und Weihnachtskarten basteln, wie sie angekündigt haben?
Nasskalter Matschort
Doch kaum kommen die Kinder an, verwandeln sie diesen nasskalten Matschort in ihren Abenteuerspielplatz. Florian und Tom sind auf ihrer Naturwippe beschäftigt, einem umgekippten Baum. Sie spielen, sie seien Babybären im Dschungel. Tom hat zudem ein paar Sorgen mit dem Weihnachtsthema: „Ich war nicht so lieb letzte Woche, habe Unfug gemacht“, sagt er und guckt ein bisschen betrübt, „hoffentlich kommt nicht Knecht Ruprecht statt dem Weihnachtsmann“.
Einen Ast unter Tom sitzt die vorwitzige Lara ebenfalls auf einem Baumstumpf und ruft voller Vergnügen: „Ich reite auf dem Pferd, wer will mitreiten?“ Dann erzählt Lara, dass sie nachts vom Weihnachtswichtel besucht wird. Und wie sah er aus? „Weiß ich ja nicht“, sagt Lara, „es war ja dunkel!“
So mädchenhaft sich Luisa, Eysan, Hannah und Frida beim Rollenspiel von Schneewittchen geben, so wild sind sie am Rutschberg unterwegs. Da sind sie eher Ronja Räubertochter als zuckersüße Prinzessin. Sie springen durch die Pfützen, spielen im Unterholz und schnitzen sich Stöcke, wippen auf umgefallenen Bäumen. Ihre Rutschen sind mit der Matschhose geduldig glattgewienerte Hügelhänge, ihre Schätze Blätter, Kastanien und auch der eingesammelte Müll, den sie finden.
Darin ist Julien besonders gut. Er hat heute ein großes Lasso als Gürtel um die Hose gebunden, ist von den schlammigen Füßen bis zur neongelben Mütze voller Blätter und durchstöbert den Wald. Er kennt hier jede Falle, jeden Dornenstrauch, auf den man aufpassen muss. Er hat sich den Müllkorb geholt, steht nun an einem steilen Hang und schaut über die Hügel, als wäre er ein Cowboy und das sein weites Land. Mit einem Stock wendet er die Blätter am Boden und schaut nach, ob dort nicht doch noch ein Getränkepäckchen verrottet. Wenn er mit der Arbeit fertig ist, wird er einiges an Plastik und sogar einen alten Pulli gesammelt haben. Die Laubfrösche werden es später in den Mülltonnen des Kindergartens entsorgen.
Sägen, bohren, schnitzen
Die vierjährige Leni und die fünfjährige Hannah haben sich die Werkzeugkiste aus dem Bollerwagen geholt. Sie fegen mit den Füßen das Laub zur Seite, damit sie später ihr Werkzeug wiederfinden. Dann fangen sie an zu schnitzen, nicht zum ersten Mal, wie man sieht. Sie seien Besitzerinnen eines Werkzeugführerscheins, erzählen sie. Der Werkzeugführerschein ist ein Stück Holz, das jedes Kind etwa ab vier Jahren machen kann. Man muss daran zeigen, dass man sägen, bohren und schnitzen kann. Danach darf man sich das Stück Holz an den Rucksack hängen, eine begehrte Auszeichnung, auf die sich auch die Dreijährigen schon freuen.
Der Mittelpunkt des Rutschberges
Leni und Hannah sind konzentriert und leise. Das fällt wirklich auf, irritiert fast. Kein Geschrei, kein Gebrüll, kein gegenseitiges Übertönen des anderen. Vielleicht, weil die Kinder hier exakt so viel Platz haben, wie sie gerade brauchen. Ist es ihnen zu viel, suchen sie sich einen Waldplatz außerhalb des Zentrums. Sie müssen die Gruppe sehen und die Gruppe muss sie sehen, lautet eine wichtige Regel, die die Kinder kennen müssen.
Die alte Europalette ist der Mittelpunkt des Rutschberg-Geländes. Gerade liegen hier Konrad und Viola um die Palette herum. Sie ist ihr Schreibtisch, auf dem sie ihre Weihnachtspost für die Eltern fertig basteln. Es werden Farne auf bunte Karten geklebt.
Die Palette kann sowieso sehr vieles sein, Versammlungsort, Bett oder Bühne. Sie ist vielseitig wie fast alles hier, so wie der Ast ein Pferd, der Busch eine Höhle, der Berg eine Rutschbahn sein kann. Blätter werden zum Lager, der Baum zum Klettergerüst, das Moos Feenlandschaft. So, wie eben auch Schneewittchen zum Weihnachtsmärchen wird.
Das ist es, was man hier von den Laubfröschen lernen kann: Dinge sind verwandelbar, mit ein bisschen Fantasie können sie fast alles sein. Immerzu erwartet man etwas und bekommt etwas anderes. Wahrscheinlich haben Maria und Josef am Heiligen Abend auch etwas anderes erwartet als einen Stall mit Kuh und Schaf, und dennoch wurde dieser Stall zu einem der wichtigsten Orte der Christenheit.
Alles nicht wie geplant
Und auch die 2000 Jahre danach ist Weihnachten selten irgendwo so gewesen, wie es erwartet wurde. Das Fest verläuft nicht wie geplant, der Weihnachtsbraten ist zäh, die Geschenke unpassend. Und das Coronavirus trägt nicht gerade dazu bei, dass man sich ein wenig entspannt. Davon merkt man hier im Wald glücklicherweise auch nichts.
Als die Kinder genug gespielt haben, wird es ernst. Sie wollen ihr Schneewittchen noch mal üben. Schließlich ist bald die Aufführung für die Eltern, da wollen alle glänzen.
Eysan bringt sich in Stellung, die sieben – pardon, immerhin sind es jetzt fünf Zwerge – der König und die Königin, die böse Schwiegermutter, der Königssohn und der Jäger stellen sich auf. Mitten im nasskalten Wald, ein Busch ist das Zwergenhaus, die Palette das Königsschloss.
Die Kinder haben beim Spielen im Wald ihre Rollen verinnerlicht. Eysan sieht wirklich wie ein schlafendes Schneewittchen aus, Emil wie ein echter Jäger. Die Zwerge singen, die böse Königin stampft mit dem Fuß auf, als sie erfährt, dass Schneewittchen noch lebt. Der Königssohn schaut verzaubert auf Schneewittchen, das den Apfel ausspuckt und erwacht. Zwischen all dem Blättergewusel doch sehr weihnachtlich, diese Laubfrösche und ihr Schneewittchen.